Ada Blitzkrieg – Ein Interview über Theater und Wurstspezialitäten

Ada Blitzkrieg geht nicht ins Theater, denn sie ist ihre eigene Institution.
22.000 Menschen wollen täglich via Twitter an ihrem Leben und ihren Gedanken teilhaben. (Zur Orientierung, das sind soviele Follower wie die Follower der Twitteraccounts von Residenztheater, Münchner Kammerspiele, Schaubühne, Thalia Theater und der Bayerischen Staatsoper zusammen, wenn man ausschließen würde, dass es nicht eh überall die gleichen sind). Dazu kommen 5.000 bei Instagram und ein paar tausend zerquetschte auf Facebook. Sie trägt das Haar in mädchenhaften Zöpfen und hat kleine, zierliche Hände, mit denen sie ihre geistige Munition in die Tasten haut: Ada Blitzkrieg bloggt, hat zwei Bücher veröffentlicht und lebt mit Freund und Katze im Internet. Völlig aufgekratzt, ist sie den ganzen Tag damit beschäftigt, Kultur und Wahnsinn über das Internet zu konsumieren und erscheint selbst im Netz unumgänglich. Sie hat nahezu olfaktorisch ihr Revier markiert, und jeder, der ihr über den Weg läuft, will sie buchen, treffen, fotografieren und an ihr riechen.
Gehen Sie zum Beispiel einmal in die Redaktion des Grimme-Preis gekrönten Fernsehformats Circus HalliGalli und Sie werden feststellen, dass es dort niemanden gibt, der Name ihren Namen nicht kennt.
Aber keine Angst, liebe Theatergemeinde, wenn Sie nun panisch zusammenzucken, weil sie wieder etwas verschlafen haben, das macht nichts, denn sie hat von Ihnen genauso wenig gehört. Und das ist schade und ein großer Verlust für beide Seiten, denn noch vor zwanzig Jahren hätte man Ada vermutlich ständig in der Theaterkantine angetroffen. Denn dort hätte sie aufgrund ihrer Vorliebe für Sprache, Exzentrik, Geschichten, durchgeknallte Menschen, verrauchte Räumen und Wurstspezialitäten landen können. Doch Ada findet das Theater verstaubt. Wie kommt dieses Bild zustande? Warum kann sie sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal im Theater war? Und was hat sie, was die Theater nicht haben?
Was hat Ada Blitzkrieg, was die Theater nicht haben?
Um dieser Sache auf den Grund zu gehen, habe ich mich mit ihr – natürlich aus rein journalistischem Interesse – auf eine Aufbackbrezel in ihrer Küche getroffen. Vorneweg sei gesagt: ein Treffen mit Frau Blitzkrieg zu arrangieren, ist in etwa so kompliziert wie eines mit Edward Snowden. Nur meiner Hartnäckigkeit und meinem Astralkörper ist es letztlich zu verdanken, dass ich plötzlich doch in ihrer Wohnung stand. Bevor ich ihr die erste Frage stellen konte, musste sie aber erst noch kurz das zweite Päckchen Schuhe an diesem Tag – und das siebte Paar in dieser Woche – vom Briefträger entgegennehmen. Eigentlich braucht sie keine Schuhe, sagt sie. Eigentlich benötigt sie gar keinen Besitz in ihrem Leben. Sie lacht hysterisch und sagt: „Wirklisch!“ Als ich gerade versuche auf das Thema Theater zu sprechen zu kommen, hält sie mir den frisch erworbenen Second-Hand-Turnschuh unter die Nase und sagt: „Riech mal!“. Ich will nicht, streube mich, tue es dem Journalismus und der Theaterwelt zuliebe dann aber doch. „Wonach riecht es?“, will sie wissen. „Keine Ahnung“, sage ich.
Wonach riecht es denn für dich?
Ada Blitzkrieg: Ich rieche genau das Mädchen, das diese Schuhe vor mir getragen hat. Kennst Du solche Menschen, die einfach duften? Dieses Mädchen roch nach gepflegter Neubauwohnung mit Klicklaminat. Man entnimmt dem Fußbett dieser modischen Basketballschuhe olfaktorisch, dass die vorherige Besitzerin zwar unverkennbar ein Mensch sein muss, denn eine leichte Note süßlich-käsiger Fußgeruch wohnt ihm schüchtern inne. Dieser wurde allerdings durch den blütenfeinen Duft von Feinwaschmitteln und weichgespülten Sneakersöckchen mit Feinstickrand überdeckt. Ich kann weder Zigarettenrauch, noch den üblichen Geruch von Partybodenresten im Sohlenprofil riechen. Dieses Mädchen führt ein vorbildliches Leben. Es ist 25 oder 37, konsumiert gerne Vorabendserien und schreckt nicht davor zurück, ihre Schuhe zu einem fairen Preis bei „Kleiderkreisel“ zu verkaufen, damit gierige Abgreifertypen wie ich ihre Naivität ausnutzen, lachend das Schnäppchen kaufen, um dann auch noch am Fußbett rumzuschnüffeln. Bestimmt heißt sie Lisa. Die blonde Lisa aus Baden-Württemberg.
Die Absenderadresse gibt aber deutlich an, dass die Verkäuferin weder Lisa heißt, noch aus Baden-Württemberg kommt. Aber das ist Ada Blitzkrieg egal. Sie erfreut sich an ihrer Vorstellungskraft. Ich frage sie, warum ihr so viele Menschen im Internet folgen. Sie sagt:
AB: Weil ich eine Person bin. Und eine fremde Person ist direkt vergleichbar mit der eigenen. Die Leistungsgesellschaft hat uns das Bedürfnis nach Vergleich ansozialisiert. Die Motivation mir zu folgen, differenziert sich an dieser Stelle in Gönner und Gegner. Einerseits folgen mir viele Menschen, die es als herrlich befreiend empfinden, wie schonungslos und offen ich mit meinem Versagen, meinen Ängsten, meinen Stärken, Prahlereien und meiner Scheide umgehe, andererseits folgen mir Menschen, die mich fürchten und ihre Angst vor meinem Erfolg, der nicht den ihnen bekannten Mechanismen der Leistungsgesellschaft unterliegt, in der Ablehnung meiner Person personalisiert haben. Machen wir uns nichts vor: ich bin faul, ich laufe viele Umwege und ich kenne mein Ziel nicht. Dies entspricht nicht dem allgemeinen Kodex von Leistung. Mein Erfolg, der sich dennoch einstellt, greift diesen Kodex an. Diese Gruppe Menschen folgt mir, um informiert zu sein, um mich klein zu machen und einen Kampf zu führen, von dem sie weder wissen, dass sie partizipieren, noch, dass sie ihn verlieren werden. Der anderen Gruppe von Followern spreche ich eher aus der „Seele“. Ich zerstreue ihre Ängste durch meine Person.
Was ist Theater?
Wir kommen nun endlich auf Theater zu sprechen. Ich erzähle Ada von ein paar Highlights der letzten tausend Jahre und was die Menschen dort so gemacht haben. Von ein paar großen Inszenierungen, von dem Wahnsinn und dem, was gegenwärtig so passiert. Ihre Augen beginnen ein bisschen zu leuchten und man merkt, dass sie neugierig wird. Interessante Ideen und Sichtweisen haben sie schon immer angefixt. Dennoch spüre ich die Skepsis. Und frage sie, was sie mir noch gestern auf die Frage „Was ist Theater?“ geantwortet hätte. Ihre Antwort ist kurz und deutlich.
 AB: Theater ist eine Bühne; auf der von extrovertierten Lautmenschen, die auf mich wie zerhackte Kandinsky Bilder wirken, eine Sprache geschrien wird, die ich nicht verstehe.
Theater als Ort des Ausschlusses
Ich lasse nicht locker, da ich weiß, dass sie eine Vorliebe für Filme von Ulrich Seidl hat und zeige ihr daher einen kurzen Ausschnitt von „Fegefeuer in Ingolstadt. Was denkst du darüber?
AB: Schau, ich bin ein optischer Typ. Mein Blick fällt als erstes auf den Namen der Autorin, „Marieluise Fleißer“. War ja klar! Das ist ein Name, in dem schon in sich selbst sehr viel Mühe erkennbar ist. Der Code für eine bestimmte soziale Schicht. Ein Zeuge von bemühten Eltern, die ihrem Kind etwas „ermöglichen wollten“. Bildung. Theater. Ein klassischer Name in einer zeitlosen Kombination. Ich bin mir fast sicher, Marieluise hatte keinen Ali oder keine Peggy im Freundeskreis. Das Theater bleibt unter sich. Gehobene Schicht. Exklusiv und mit einem Anspruch an Bildung, Mehrwert, Erziehung, Berührung, Reflexion. Ein Vergnügen für eine privilegierte Schicht. Mühe. Kraft. Energie. Ich habe direkt das Gefühl, fremd zu sein. Nicht nur, dass mir die Sprache nicht zugänglich ist, trotz bester Bildung durch eine Klosterschule, nein, mir sind auch die Inhalte fremd. Das Publikum, die Beteiligten, die Art wie Emotionen dargestellt werden. Alle gehoben gebildet, alles Lehrerkinder oder Kinder von Theatermenschen. Meine Lebenswelt ist eine andere, gerade im Internet, wo ich mit den wüstesten Menschen konfrontiert werde. Hier bewegen sich alle. Die Barrieren der Teilhabe sind zwar auch vorhanden, aber leichter zu überwinden. Mutti und der nette Kebapverkäufer haben auch ein Facebook- oder Twitterprofil, aber ins Theater gehen sie nicht.  So wie ich es auch nicht tue, weil ich mich gerne in einer Realität bewege, deren Code ich dechiffrieren kann.
Ich sehe in diesem Ausschnitt von „Fegefeuer in Ingolstadt“ eine große Anstrengung. Die Worte. Die Mimik. Ich weiß, man verlangt mir etwas ab. Ich bin in meinem Konsum nicht dazu bereit, eine Gegenleistung zu bringen. Das Bühnenbild, die Szenen und das Kostüm fesseln mich dennoch. Ich könnte den ganzen Tag die einzelnen Bilder hintereinander angucken. Verwachsene Frau mit bonbonfarbenem Blazer auf hartem Boden in einer Krankenhauslichtsituation. Das kriegt mich. Aber die ersten Worte verlieren mich wieder.
Theater als geistige Heimat
Und ich frage mich, wo und wann genau hat der Theaterbetrieb Ada Blitzkrieg verloren? Anscheinend hat ihr keiner gesagt, dass Marieluise Fleißer längst tot ist und zu einer Zeit lebte, in der Kebap noch nicht erfunden war. Es hat ihr keiner gesagt, dass es in „Fegefeuer in Ingolstadt“ um ein streng katholisch erzogenen Schüler geht – und woher soll man das ohne einen einschlägigen Studiengang auch wissen?! Wir Theatermenschen werfen bedeutungsschwanger mit Begriffen und Namen um uns, die Ada nicht dechiffrieren kann und haben dadurch schon immer Menschen ausgeschlossen. Doch jetzt haben wir die Möglichkeiten, diese Dinge zu vermitteln. Das Internet wäre ein so schöner Weg um Ada den Mund wässrig zu machen, sie ein bisschen an die Hand zu nehmen, damit sie merkt, dass das Theater – neben geographischer Heimat in der Mitte einer Stadt  – auch eine geistige Heimat in der Mitte der Gesellschaft ist, sein, werden kann.
Ich habe ihr versprochen, dass ich ein Blog für sie anlegen werde, um interessante Theaterdinge zu sammeln  – und sei es nur manchmal ein wirklich gelungener Trailer, ein guter Hörbeitrag, Diskussionen, etwas, das von diesem ganzen wunderbaren Wahnsinn berichtet, den ich so sehr liebe. Ich will ihr virtuell mit der gleichen Begeisterung erzählen, wie ich das hier in ihrer Küche tue und nicht nur von einem einzigem Theater in einer Stadt, sondern Häuser und Szenen übergreifend. Vielleicht verlässt sie dann eines Tages ihr Versteck am Moskauer Flughafen, um auch das reale Theater kennenzulernen.
Manuel Braun sprach bei der Eröffnung des Theatertreffen-Camps über Ada Blitzkrieg und seine Erkenntnisse aus diesem Gespräch. Einen Liveblog mit seinen Aussagen finden Sie hier.
Die viel zitierte Inszenierung „Fegefeuer in Ingolstadt“ wurde im Rahmen des Theatertreffens gezeigt. Sehen sie hierzu auch Jannis Klasings Kritik und Felix Ewers grafische Auseinandersetzung mit der Aufführung. 

Die Berliner Zeitung ist Partner des Theatertreffen-Blogs.

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Manuel Braun

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