„Avantgarde ist nicht, wenn weniger Leute kommen.“ Ein Gespräch mit Herbert Fritsch

Heute Abend war an der Volksbühne im Rahmen des Theatertreffens noch einmal „Murmel Murmel“ zu sehen (hier alle bisherigen Beiträge des TT-Blogs dazu).

50. Theatertreffen

Grün und rot: Herbert Fritsch auf der Bühne von „Murmel Murmel“ beim Applaus. Foto: Piero Chiussi

Der Regisseur Herbert Fritsch hat sich mit mir vorletzte Woche um 9 Uhr in seinem Lieblingscafé getroffen. Ich wollte mehr wissen über seine Arbeitsweisen und die Traditionen, in denen er sich selbst verortet. Als ich, um mich vorzustellen, mein Interesse für die literarischen Avantgarden erwähne, zeigt er sich begeistert und schon sind wir mitten im Gespräch und Herbert Fritsch erzählt mir von seinen Vorbildern aus Literatur und Bildender Kunst:

Herbert Fritsch: Boris Arvatov [sozialistischer Kunsthistoriker der 1920er Jahre, Vertreter des Proletkult, Anm.d.R.], hat mich in meiner Jugend sehr beeinflusst: „Jedes Material ist es wert, bearbeitet zu werden.“ Ob das jetzt Styropor ist oder Marmor, scheißegal. Ich glaube, „Die spanische Fliege“ ist ein Ready-Made, damit kann man was machen, genauso wie mit Frau Luna, das kann man in einen anderen Zusammenhang stellen. Das finde ich reizvoll, so wie ich auch Jeff Koons gut finde. Wenn da plötzlich Popeye neben so einer alten Marienstatue steht. Oder wie Roy Lichtenstein Comics in die Malerei reingenommen hat. Wenn Leute nicht mehr so erfürchtig niedersinken, hat das auch Unterhaltungswert.

Ich hatte während der Vorbereitung des Interviews entdeckt, dass Herbert Fritsch auch Theaterabende zu Konrad Bayer gemacht hat, einem Vertreter der Wiener Gruppe, die sich in den 1950er Jahren in Wien als ein Kreis experimenteller Literaten gegründet hat. Ein Prosatext Konrad Bayers beginnt so: „der verzweifelte karl greift zum karl. aber schon hat karl karl genommen. da erscheint karl mit karl auf dem karl und wirft karl auf karl in den karl. karl kommt und findet karl. da stösst karl auf karl und verstösst karl. aber karl gibt nicht auf.“ Hier wird die Nähe zu dem Fluxus-Künstler Dieter Roth deutlich, Autor von „Murmel Murmel“, der den Text 1974 als 176-seitiges Buch im Eigenverlag herausbrachte. Ich möchte von Herbert Fritsch wissen, wie er die Wiener Gruppe versteht: als eine Form von Avantgardismus, zu dem er sich auch bekennt? Ob er selbst Avantgardist sei?

HF: Ich weiß nicht, ob Avantgarde nicht ein oft irrtümlich gebrauchter Begriff ist. Die Sachen, die in der Wiener Gruppe gemacht wurden, stehen ja in einer ganz starken Tradition: Gedichte aus dem Barock und diese Verschnörkelungswiederholungen, wenn man Opern hört. Ich weiß gar nicht, ob das wirklich Avantgarde war, das hat ja auch einen unglaublichen Humor.
Und bei der Wiener Gruppe liegt auch in der Form eine Art von Bescheidenheit. Die haben ja auch Gruppenprojekte gemacht. Oswald Wiener, H.C. Artmann und Konrad Bayer haben sich vormittags hingesetzt, irgendeinen Schundroman oder irgendwas für Collagen genommen und das abends aufgeführt. Das hat einerseits etwas Serielles und andererseits eine extreme Wirklichkeit.

Bei „Murmel Murmel“ war es so: Da ist ein traditionelles Bühnenbild, Barock-Prinzip, aber ich habe angefangen, es mit moderner Technik zu bewegen. Dann „Murmel Murmel“ zwischenrein und mit Zitaten gefüttert: dämliche Pantomimen-Geschichten, Ballett und so Zeugs. Das wirkt vielleicht einfach, aber was die Schauspieler da gebüffelt haben! Mehr als in einem konventionellen Stück.
Ich mach Theater für alle. Ich möchte auch geliebt werden, mit dem, was ich mache. Und ich glaub, dass es bei der Wiener Gruppe auch so war: Die wollten gemocht werden. Nur hat man einfach nicht erkannt, was da in „karl, ein karl“ an Unterhaltungswert drin ist. Viele wissen noch immer nichts von der Wiener Gruppe. Aber die ist für mich nicht avantgardistisch.

Wenn an der Volksbühne Vorstellungen ausfielen, dann hab ich den Konrad Bayer gemacht. Und wenn da vorher 600 Zuschauer waren, waren nachher oft nur noch 50 da, weil keiner wusste, was Konrad Bayer ist. Aber das heißt ja nicht, dass es Avantgarde ist, weil weniger Leute kommen.

Nachdem ich Ende April einen Abend bei der Volksbühne-Reihe „Livekritik und Dosenmusik“ verbracht hatte, bei dem „Murmel Murmel“ nach Pop-Bezügen befragt worden war (eine Art, Theater zu besprechen, die viel öfter praktiziert werden sollte), möchte ich nun wissen, wie bewusst Herbert Fritsch die Vergleiche zu Fernsehshows und Pop-Kultur bei den Proben waren.

HF: Ja, ich zitiere öfter den Kermit. Natürlich hab ich die Muppets im Kopf. Aber ich habe die nicht so viel gesehen. Southpark hab ich viel geguckt, die Simpsons nehm ich auch mal zur Hilfe oder Beavis and Butthead. Oder auch den Stummfilm, viel aus den 1920er Jahren, ganz altmodische Schauspielkunst, die ich großartig finde. Die eben durch so eine Sachlichkeit abgewürgt wurde. Sachlichkeit, Lässigkeit, bloß nicht verkrampft. Ich finde ja Krampf wunderbar.

Mich hat gestört, dass „Murmel Murmel“ entweder als lustig-trivial abgetan oder aber als umfassende Kulturkritik bewertet wurde, als Aufzeigen von Missständen, etwa: Alle reden ja nur Schwachsinn! Ist „Murmel Murmel“ politisch? Und wenn ja, wie?

HF: Das politische Theater machen die Politiker schon, das ist lachhaft genug. Nehmen wir den Berliner Flughafen BER. Die machen da jetzt so ein Team auf, das „Sprint“ heißt (lacht) und Mehdorn sagt mit seiner hohen Stimme (macht nach): „Ja, dann treffen wir uns alle vormittags und nachmittags und gehen dann an die Arbeit.“ Ja, das ist ja ganz was Besonderes! Dass die auch noch was machen und dass es „Sprint“ heißt! Diese ganzen Lächerlichkeiten, das ist doch uninteressant. Das ist „Bla, Bla“ und nicht „Murmel, Murmel“, das ist der Unterschied.

Seine Inszenierung ist also für Herbert Fritsch keine Kritik an politischen Umständen, sondern stellt etwas Utopisches dar. Deutlich wird das etwa in den Momenten, wo sogar das Publikum das „Murmel Murmel“ aufgreift und mitspricht, gar mitbrüllt. Ich male mir aus, dass sich nach Vorstellung vor der Volksbühne Sprechchöre bilden, die murmelnd durch die Stadt ziehen, und frage Fritsch, ob das nicht beängstigend wäre.

HF: Nein, das wäre dann eine soziale Plastik und das hab ich sogar schon erlebt: Ich gehe auf der Straße, und plötzlich ist eine ganze Familie hinter mir und macht „Murmel Murmel“, die kleinen Kinder und die Eltern … Das ist doch schon mal was! Das ist doch ein Programm.

Wenn ich Fritschs Inszenierung mit den Arbeiten der Wiener Gruppe vergleiche, wo der Autor hinter dem Material zurücktritt, müsste in schöner Analogie bei „Murmel Murmel“ der Regisseur hinter dem Material zurücktreten. Ist „Murmel Murmel“ also Schauspieler-Theater, und der Regisseur hält sich zurück? Oder war eher Autorität nötig, um eine so präzise durchkomponierte Inszenierung umzusetzen?

HF: Das ist eine komplizierte Frage. Entscheidend ist, dass ein Regisseur die Schauspieler überzeugt, von dem, was er vorhat. Wir haben sechs Wochen Probenzeit für das Stück. Mich interessiert nur: Machen, nicht stundenlang über eine Szene quatschen. Dieses: „Ach, wie machen wir jetzt diese Szene? Hmm. Jetzt lass mal Kaffee kochen.“ Dann sitzt man da und überlegt, alle fühlen sich so wohl und dann denken die Schauspieler: „Jetzt muss er mal ausrasten!“ Diese ganzen Klischees, die alle haben … Es wird immer nur von der Eitelkeit der Schauspieler gesprochen. Und die maßlose Eitelkeit der Intendanten, Regisseure, Dramaturgen und Bühnenbildner, die wird kaum wahrgenommen! Schauspieler sind der Kern der Sache, um die geht es.

Also nicht lang quatschen, ist die Ansage. Wie kann ich mir die Probenarbeit mit Herbert Fritsch konkret vorstellen?

HF: Ich spiele was vor oder die Schauspieler spielen was vor, und ich reagiere drauf. Oder ich sage: „Geht doch mal und macht diese Szene!“ Und dann kommen die wieder, und ich muss nichts mehr machen. Das ist einfach ein wunderschöner Prozess. Spielen ist eine andere Form von Denken und von Intellektualität. Ja, ich glaube, dass „Murmel Murmel“ Schauspieler-Theater ist. Letztens war ich drin und hab gesehen, wie die ihr Ding machen, wie die ihr Timing haben. Die leben das! Das ist so ein Ausdruck von Lebensfreude, dass man diesem grauen Mist was entgegensetzt.

Das ist ein willkommenes Stichwort für mich, um über das knallbunte Bühnenbild und die knallbunten Kostüme zu reden. Aus dem Blog-Team hatte jemand mir zugeraunt: „Frag doch Fritsch mal, ob er farbenblind ist.“ Das petze ich. Braucht das zeitgenössische Theater mehr Farbe?

HF: In den vergangenen dreißig Jahren hat es diesen Farbraum so gut wie gar nicht gegeben, die Zeit des großen Regietheaters bedeutete Farblosigkeit. Farbe hat für das Theater aber ein unglaubliches Potential! Farbe ist Kraft, ein Bekenntnis. Ganz einfach. Und je extremer ich sie wähle, desto radikaler ist es. Guck mal diesen Rotz hier an (zeigt auf die Häuser drumherum), da traut sich keiner was! Diese ganze Supermarkt-Architektur in Berlin ist kein wirkliches Bekenntnis! Nee, also bei mir muss es knallen. Theater ist für mich auch eine Droge. Und eine Droge muss knallen.

Als wir uns nach knapp zwei Stunden voneinander verabschieden, lässt Herbert Fritsch fallen, dass er bald Konrad Bayer inszenieren möchte, er wisse nur noch nicht, ob in Berlin oder in Wien. Vielleicht heißt die „Murmel Murmel“-Fortsetzung „karl, ein karl“?

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Clemens Melzer lebt in Berlin, wo er Germanistik und Theaterwissenschaft studiert.

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