Der einsame Kritiker und die 11. Inszenierung

War eigentlich dieses Jahr ein TT-Juror im Theater am Kurfürstendamm? Andreas Wilink beantwortete uns freimütig diese und noch drängendere Fragen im Interview.

Der Theaterkritiker Andreas Wilink ist seit drei Jahren Juror beim Theatertreffen. In diesem Jahr übt er das Amt zum letzten Mal aus. Im Gespräch mit unserer Bloggerin erzählt er über das einsame Dasein des Theaterkritikers, persönliche Favoriten, aktuelle Theatertrends und die Suche nach der Avantgarde.

TT-Blog: Herr Wilink, wie viele Theaterstücke haben Sie im letzten Jahr gesehen?
Andreas Wilink: Ich habe mir jetzt sogar ausgerechnet, wie viele Theaterstücke ich in meinem Leben gesehen habe. Fürs Theatertreffen würde ich von 100 bis 120 ausgehen. Und auf die gesamten letzten 30 Jahre gerechnet etwa 2000 Aufführungen, die ich in meinem Leben gesehen habe, oder man könnte natürlich auch sagen: Mit denen ich mein Leben vertan habe.
TT-Blog: Gutes Stichwort. Auf wie viele hätten Sie verzichten können?
Wilink: Auf viele. Es kommt darauf an, worauf man das bezieht. In Bezug auf das, was ich behalte, verinnerliche, speichere würde ich sagen, ich hätte auf 80 Prozent verzichten können. Aber natürlich stellt sich so eine gewisse Müdigkeit ein, wenn man das 30 Jahre lang gemacht hat.
TT-Blog: Gibt es ein Theater oder einen Regisseur, das oder den Sie absolut meiden würden nach Ihren Erfahrungen?
Wilink: Ja, ich könnte eine Menge aufzählen. Aber ich finde das jetzt auch ein bisschen unangemessen, das zu tun. Aber wenn ich jetzt meine eigene Region ins Auge fasse, würde ich sagen, dass das Dortmunder Schauspielhaus nicht zu meinen Favoriten gehört.
TT-Blog: Gehen Sie eigentlich noch ins Kino?
Wilink: Gut, dass Sie fragen. Ich sage immer, jeder sollte ein Referenzsystem haben, bevor er anfängt, zu schreiben. Das kann das Theater sein, das kann das Kino sein, die Literatur, die bildende Kunst. Es sollte aber noch ein anderer Bereich hinzukommen. Und für mich war das immer der Film. Vom Film kann ich sagen, dass ich die Enttäuschungen, die ich häufig im Theater erlebe, im Film nicht so erlebe. Selbst bei mittelmäßigen Filmen finde ich immer noch etwas. Ich zitiere da immer gern die Lotte Eisner: „Es gibt gar keinen Film, in dem ich nicht fünf Minuten finde, die großartig sind.“

„Das Leben als Theaterkritiker ist ohnehin einsam.“

TT-Blog: Sprechen wir über das Jurorenleben. Wurde Ihnen schon einmal Geld angeboten?
Wilink:
Nein.
TT-Blog: Irgendwelche Vergünstigungen?
Wilink: Nein. Ich halte das ja für ein bisschen überschätzt. Was nutzt es einem Intendanten, wenn er mir einen Scheck überreicht und die sechs anderen bekommen keinen? Es gibt im Übrigen auch keine Absprachen. Es heißt ja immer wieder, es hätte bestimmte Überlegungen gegeben, dieses oder jenes Theater müsste dabei sein – völliger Quatsch. Ich habe in meinen Jurorenjahren nie erlebt, dass man aus kulturpolitischen Gründen irgendein Theater oder eine Aufführung propagiert und dabei haben will.
TT-Blog: Ist das Leben als Theatertreffenjuror einsam?
Wilink: Das Leben als Theaterkritiker ist ohnehin einsam. Das potenziert sich vielleicht dadurch, dass man noch mehr unterwegs ist als sonst.
TT-Blog: Gab es eine Inszenierung, die Sie gerne dabei gehabt hätten? Ihre „11. Inszenierung“?
Wilink: Für mich war das dieses Jahr eine Produktion der Ruhrtriennale von Ivo van Hove aus Amsterdam („Die Stille Kraft“, Anm.). Ich fand vor allem den Text so interessant, das ist ein Roman aus dem 19. Jahrhundert und thematisiert die Kolonialzeit. Ich fand auch die Umsetzung sehr angemessen und richtig. Und ich fand, das wäre eine Farbe gewesen, die sehr gut gepasst hätte und eine gute Ergänzung gewesen wäre.
TT-Blog: Für welche Inszenierung haben Sie sich innerhalb der diesjährigen Auswahl besonders eingesetzt?
Wilink: Für „der die mann“, auch wenn ich mich dafür nicht groß einsetzen musste, weil das Konsens war. Auch für „Mittelreich“ habe ich mich sehr eingesetzt. Bei „Effi Briest“ waren wir uns eigentlich auch sehr schnell einig. Das war einfach etwas, woran man sich freute. Bei Karin Beiers „Schiff der Träume“ hat sicherlich die größte Kontroverse stattgefunden.

„Ich sehe die Avantgarde im Moment nicht.“

TT-Blog: Wie war Ihre Haltung zu dieser Kontroverse?
Wilink: Tendenziell war ich eher dafür.
TT-Blog: Und wieso?
Wilink: Ich würde nicht sagen, dass wir den unbedingten Willen hatten, Flüchtlinge zu thematisieren. Aber wir hatten ein Gefühl des Unwohlseins, wenn wir das ignoriert hätten. Da kann man wieder sagen: Jede Aufführung steht für sich und muss sich unabhängig bewähren. Das mag theoretisch so richtig sein, und trotzdem läuft man nicht blind durch die Welt. Im Rahmen all dieser von uns besichtigten sozialpolitischen Aufführungen schien einigen von uns die Aufführung von Karin Beier die spielerischste, die am wenigsten ihrer selbst sichere und eher mit einer Ratlosigkeit arbeitende Aufführung zu sein.
TT-Blog: Was glauben Sie: Wie viele Inszenierungen mit oder über Flüchtlinge haben Sie gesehen im letzten Jahr?
Wilink: Das ist schwierig, wie eng man das fasst. Selbst die Inszenierung Mittelreich beschäftigt sich mit dieser Thematik. Insgesamt vielleicht ein Dutzend.
TT-Blog: War ein Jurymitglied im Theater am Kurfürstendamm?
Wilink: Wir waren im letzten Jahr im Theater im Kurfürstendamm. Dieses Jahr nicht.
TT-Blog: Was sind aktuelle Trends der deutschen Theaterszene, die sich dieses Jahr ablesen lassen?
Wilink:
Also wir haben dieses Jahr weniger etablierte, jüngere Regiehandschriften dabei. Es gibt kaum ein großes klassisches Drama. Es sei denn, es ist umgeformt worden, was letztes Jahr schon für Ibsen galt und dieses Jahr wieder für Ibsen gilt. Ansonsten sind es Romanbearbeitungen. Dokumentarische Ansätze, das ist Trend, aber einer, der schon seit Jahren virulent ist. Viele fragen halt immer: Und warum habt ihr nicht die eine große Klassikeraufführung eingeladen? Dann sage ich: Das hätten wir gern getan, wenn man uns sagt, wo die ist.
TT-Blog: Wo steckt heute die Avantgarde?
Wilink: In gewisser Weise erfüllt ja Herbert Fritsch diese Rolle mit seinem neodadaistischen Ansatz. Vielleicht muss ja Avantgarde nicht immer eine von Skandal und Hass umtoste Veranstaltung sein. Vielleicht kann man das ja auch, heutzutage, wo man sowieso alles so schnell adaptiert, gleich in den Kanon überführen. Jürgen Gosch war immer Avantgarde oder mindestens die Spätphase war von mal zu mal avantgardistischer. Oder Schlingensief.
TT-Blog: Aber das ist jetzt auch ein bisschen her.
Wilink:
Gut, in welchem Zeitraum rechnen wir? Zehn Jahre finde ich nicht so wahnsinnig lange. Aber dann würde ich sagen: Ich sehe die Avantgarde im Moment nicht.

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Marlene Knobloch

Jahrgang 1994, studiert Deutsche Literatur und Medienwissenschaft in Berlin. Sie ist Stipendiatin der Journalistenausbildung der Passauer Neuen Presse. Lebt in Berlin.

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