Die Hölle, das sind die anderen

Bei so manchem Theaterbesuch spielen sich die wahren Dramen nicht auf der Bühne, sondern im Zuschauerraum ab. Auf engstem Raum sitzt man dort mit Wildfremden Arm an Arm, Knie an Rücken – und kommt oft auch Menschen nah, zu denen man eigentlich lieber Abstand gehalten hätte. Die tt-Blogredaktion hat die nervigsten, ekligsten und skurrilsten Begegnungen in Parkett, Loge und Rang gesammelt. Kommentieren Sie mit und berichten Sie uns von den Erlebnissen, auf die Sie lieber verzichtet hätten!

Erst denke ich noch, vor mir sitzt ein Banause. So schamlos wie der vor sich hinpennt, wie der Kopf sich langsam nach vorne senkt. Aber dann rutscht der ganze Oberkörper nach, er kippt zur Seite wie ein nasser Sack. Der Zuschauer ist ohnmächtig geworden. Ich habe das nicht nur einmal gesehen, nicht zweimal, nicht dreimal. Mindestens viermal. Manchmal unterbrachen die Schauspieler ihr Spiel und warteten, bis der arme Mensch hinausgetragen wurde. Manchmal merkten sie es gar nicht. Ich weiß bis heute nicht, ob es das Theater ist, das die Zuschauer so sehr überwältigt. Oder ob es einfach an der stickigen Luft liegt. Ich fürchte ja, eher letzteres. (Anna Pataczek)

An das Geräusch kann ich mich noch erinnern. Ein heftiges Würgen, ein tiefes Gluckern. Ich weiß auch, dass ich es hörte und sofort wusste, was das bedeutet. Aber ich konnte nicht mehr reagieren. Eine Sekunde später quiekte die ältere Dame auf dem Nachbarsitz. Durch meinen Pullover sickerte langsam die Wärme. Es war vor sieben, acht Jahren im inzwischen geschlossenen Dresdner Theater in der Fabrik, als ein Herr mit Fliege und Bügelfaltenhosen mir auf den Rücken spie. Ein kräftiger Schwung Abendspeise. Erstaunlich, wie schnell sich der Geruch ausbreitet. Erstaunlich auch, dass die Schauspieler nichts bemerkt haben. Es war ein kleiner, enger, stickiger Raum. Die Bühne zur ebenen Erde, der Ausgang am gegenüberliegende Ende. Ich hätte sie durchqueren müssen, um hinaus zu kommen. Ich kam nicht hinaus, er kam auch nicht hinaus. Danach habe ich meinen Pullover in den Theaterfoyermülleimer bugsiert und ihm versichert, dass das so schlimm nun auch wieder nicht sei, ich die Sache aber wahrscheinlich nicht vergessen werde. (Dirk Pilz)

Staatsoper, Thalheimer / Jordan – Die Entführung aus dem Serail. Im Sommer. Ich komme knapp vor Vorstellungsbeginn in den Rang gestürmt und sitze natürlich nicht ganz außen – so dass alle nochmal aufstehen müssen. Vor allem meine direkte Sitznachbarin (weibliche Hälfte eines Touristen-Pärchens aus Japan (?)) verleiht ihrer Empörung sauertöpfischen Ausdruck. Nur zehn Minuten nach Beginn des Abends bekomme ich dann selbst Gelegenheit zum Sauertöpfisch-Werden: denn sie zieht ihre Pumps aus, um ihren nylonbestrumpften, offenbar sightseeinggeplagten Füßen Erleichterung zu verschaffen. Selten so einen stinkigen Opernabend durchlebt. Wenn es eine Pause gegeben hätte (Thalheimer – also nein), hätte ich einen Döner gegessen. (Sophie Diesselhorst)

Meine Mutter hatte mir zum Geburtstag Karten für „Parsifal“ in Darmstadt geschenkt. Sie und ihr Freund und ich und mein Freund gingen also dort in eine sechsstündige Inszenierung der Wagner-Oper. Mein Liebster und ich saßen nebeneinander, hielten Händchen und lehnten ab und an die Köpfe aneinander, vielleicht haben wir uns auch mal geküsst.
In der Pause beugte sich plötzlich ein etwas älterer Herr von hinten zu meinem Freund und tippte ihm auf die Schulter: „Entschuldigung, ich würde Ihnen gerne etwas sagen. Das ist nicht mit erhobenem Zeigefinger gemeint, aber diese Oper ist ein Weihfestspiel, von Wagner auch als solches gemeint. Wir sind hier nicht im Kintopp.“ Wir tauschten leicht verwunderte Blicke aus, während wir nach draußen gingen. Ein anderer älterer Herr, der neben mir in der Reihe saß, lachte mich gutmütig an: „Nehmen Sies nicht für ungut, solche Leute findet man immer wieder in der Oper. Als ich mit 19 zum ersten Mal den „Parsifal“ sah, hab ich mich vier Stunden lang schrecklich gelangweilt und wäre beinah gegangen – dann hat es mich gepackt. Bis heute habe ich das Stück 27 Mal gesehen.“ Versöhnt mit dem Opernpublikum gingen wir in die Pause.
In der zweiten Hälfte konnten wir es uns allerdings nicht verkneifen, mehrmals zu knutschen. Nach dem Schlussapplaus beugte sich der Kintopp-Herr nocheinmal zu uns, offensichtlich hatte er unseren Unmut über seine Anmerkung bemerkt: „Nichts für ungut, nicht wahr.“ Seine Ehefrau lächelte uns dämlich an: „Darf man fragen, wie lange Sie schon ein Paar sind?“ Ich: „Zweieinhalb Jahre.“ Sie: „Ich dachte ja, das wäre eine ganz junge Liebe.“
(Alexandra Müller)

Publikum im Deutschen Theater bei „Diebe“: Neben mir ein Paar, das sich laut rühmt, fast alle Theatertreffen 2010-Stücke bereits gesehen zu haben. Während der Vorstelllung schaut die Frau alle zehn Minuten auf die Uhr…, dies alles, das Sitzen und Schauen, scheint für sie eine Pflichtveranstaltung zu sein, und das macht mich auch etwas unruhig. Auch der ältere Herr hinter mir hat mit dem Sitzen Probleme. Er fragt mich in der Pause: „Stört es Sie, wenn ich mein Knie in Ihre Rückenlehne bohre?“ (Nikola Richter)

In Wien bekommen Arbeitslose und sozial schwache Menschen einen „Kulturpass“, mit dem sie kostenlos unter anderem ins Theater gehen können. Nachdem ich meinen Kulturpass an der Theaterkasse vorgezeigt hatte, wurde mir nach langem Mustern und Zögern mein Ticket überreicht: „Na, Sie haben sich aber heute schick gemacht“, meinte die Dame an der Kasse zu mir. Ich trug Jeans und ein Seidentop. Wäre ihr eine Jogginghose etwa passender erschienen? (Christina Reichart)

Ich muss mich an dieser Stelle wohl als latenter Soziopath outen: Am liebsten ist mir das Publikum immer dann, wenn es meinem Gefühl nach gar nicht da ist. Meine negativen Erfahrungen (leider nicht auf ein einziges Highlight reduzierbar) reichen dann auch von notorischen Tuschlern über tattrig-nervöse Plastiktüten-Dauerraschler hin zu befremdlichen Simultankommentatoren des Bühnengeschehens; von penetranten Mund- und Körpergerüchlern über lautstarke Schnaufer und Schnarcher hin zu Ohnmächtigen (bei Horrorfilmen) oder einem Erbrechenden (bei meinem Lieblingsfilm). Während die eben genannten Publikumstypen vor allem nerven, gehen die nicht selten anzutreffenden, jedweder Empathie und jeglichen Respekts entbehrenden und meist an den unpassendsten Stellen auftretenden Gruppenlacher und lautstark-lärmenden Aufstehen-und-Türknaller an die Substanz: Einsamkeit, Wut und Zweifel an der Fähigkeit der Kunst, jegliche Erkenntnis zu schaffen, gehören zu den Gefühlen, die dieser Publikumstypus bei mir auszulösen vermag. Dass auch negative Erfahrungen den Horizont erweitern, ist dabei ein zwar nur kleiner, aber doch entschädigender Trost. (Kai Krösche)

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