Die Lust am Verriss

Dem am Ende plötzlich Tragik abgewinnen zu wollen, wirkt bemüht bis blöd!
Das einzige, was fehlt, sind Ohrfeigen und verrutschte Toupées!
Die Inszenierung kommt gar nicht dazu, am Text zu scheitern!

(Eigenzitat)

Verrisse zu schreiben ist ein Genuss. Verrisse sind das einzig Erhabene, was Theater je hervorzubringen imstande war. Verrisse umgibt eine religiöse Aura. Echte Verrisse zertrümmern das Porzellangeschirr in der Regiestube, spielen Rock’n Roll im Schlafzimmer der Intendanz, lassen Freundschaften und Ehen zerbrechen, machen die Souffleuse stutzig.

Es gibt Leute, die meinen, Verrisse hätten was mit der Laune des Kritikers zu tun oder mit der Qualität der Inszenierung. Das ist naiv. Ein echter Verriss braucht das alles nicht. Er folgt in seiner Genese ganz anderen Bedingungen und gründet zuletzt in einer fast schon selbstlosen Hingabe an die Inszenierung. Und noch eine Bemerkung: Spätestens seit dem Bestehen von nachtkritik.de herrscht immer wieder Angst vorm harten Ton anonymer Kommentare. Das sind aber keine Verrisse, wie ich sie meine. Ich meine mit Verriss eine Kritik, die es schafft, auf die Bühne zu schleichen, um dort selbst zum Akteur zu werden, zu brüllen, die Requisite kleinzutreten und Feuer zu legen.

Warum werden Verrisse geschrieben?

Einen Theaterabend, der komplett versagt hat, an seinen peinlichen, erbärmlichen Stellen zu packen und an die Wand zu klatschen, befriedigt so tief, wie es keine Lobeshymne über einen Theaterabend vermag, der alles richtig gemacht zu haben scheint. Wenn man eine Vorstellung bejubelt, bleibt man selten allein. Meist drängen sich plötzlich Zuschauer um einen, die applaudieren, kreischen, glucksen, trampeln. Der Verriss hingegen ist exklusiv: Er berichtet zunächst nur, mal rutscht ein anerkennendes Wort raus, die Inszenierung bekommt Fallhöhe unterstellt. Dann erst kann der Verriss pietätlos dreinschlagen. Diese Mühe macht sich kein enttäuschter Zuschauer auf dem Nachhauseweg. Er flucht eher, wie es auch vom anonym Kommentierenden erwartet wird. Kaum einer ahnt, was ihm dabei entgeht.

Hierin liegt nämlich der Schlüssel zum Verriss: Der formale Respekt, der anfänglich noch moderate Ton, das Hervorheben vergangener Leistungen von Regie oder Ensemble, Dinge, auf die sonst niemand kommen würde. Nur so kann die Kritik langsam einen eigenen Charakter entwickeln, sich dezent vom Sitzplatz erheben und unter Entschuldigungen durch die vollbesetzten Reihen drücken, Hemd hochkrempeln, Schlips zurechtrücken und unbeobachtet den Gang entlang Richtung Bühne schleichen. So wie die echte Verachtung erst im Schreibprozess entsteht, wird die Kritik erst durch das Schleichen zum echten Verriss. Es gibt dabei vornehmlich zwei Arten zu schleichen: Ironisch, mit einem Augenzwinkern in Richtung Zuschauerraum und leichten Knuffen in die Rippen der Kollegen, oder intellektuell-pedantisch, mit adretter Haltung und Verweis auf das Recht, den Platz während der Aufführung zu verlassen. Männlicher Habitus in jedem Fall, aber auch ein bisschen Selbstzensur, es müssen ja noch Sätze zustande kommen.

Hat die Kritik es aber erst einmal auf die Bühne geschafft, gibt es kein Halten mehr. Zum Verriss mutiert, wirft sie sich die Kleider vom Leib, reißt den Vorhang samt Halterung und Gebäudeteilen herunter, würgt mit jeder Hand einen Schauspieler, um die Köpfe wie Glocken läuten zu lassen, bewirft die Techniker mit Mobiliar, beißt dem Inspizienten die Nase ab und hängt das Regieteam kopfüber an die Beleuchtung. Wichtig dabei: Gleichmut bewahren. Ein „Schade“ oder „Leider“ ist jetzt nicht mehr angebracht.

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Clemens Melzer lebt in Berlin, wo er Germanistik und Theaterwissenschaft studiert.

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