Geschichte erzählen

Simone Kuchers „Eine Version der Geschichte“ folgt den Spuren einer armenischen Familie durch die Verwerfungen und Brüche des 20. Jahrhunderts. Die Arbeit wurde beim Stückemarkt in einer szenischen Lesung präsentiert.

Simone Kuchers „Eine Version der Geschichte“ folgt den Spuren einer armenischen Familie durch die Verwerfungen und Brüche des 20. Jahrhunderts. Beim Stückemarkt war die Arbeit in einer szenischen Lesung in der Kassenhalle zu sehen. Mit Blick in den Garten.

Draußen ist es schön. Um halb acht scheint die Sonne noch ein wenig. Der Tag geht zu Ende, aber langsam, als die Schauspieler auf die Bühne treten, drei Frauen, drei Männer und ein Mädchen. In ihrem Rücken der Garten.

„Er ist tot“, lautet der erste Satz. Und der zweite: „So muss es sein“. Dieser Anfang sagt schon viel über „Eine Version der Geschichte“ von Simone Kucher. Über das Verhältnis von Wissen und Glauben, Recherche und Fiktion. Über Gewissheiten, die dann doch nicht mehr gewiss sind, über die eigenen Vorstellungen von dem, was wahr zu sein hat, weil es so sein sollte. Das „muss“ ist ambivalent, und diese Ambivalenz zieht sich durch das Stück.

Der Wind lässt vor dem Fenster die Kastanienblüten regnen.

Lusine, die Hauptfigur, macht sich auf die Suche nach ihrer Identität. Es ist sicher zu simpel, es so auszudrücken, aber es stimmt trotzdem ein bisschen. Amerikanerin, Deutsche, Armenierin. Ihr Bruder will in die Türkei reisen, die Mutter ist nicht begeistert, zu gefährlich für Armenier. Auf einer Tonbandaufnahme des Jahres 1914 glauben sie, die Stimme ihres Großvaters zu erkennen.

Das Mädchen sitzt im Garten auf der Schaukel und wippt.

Nach dem ersten Weltkrieg, so fängt eine Wissenschaftlerin an zu erzählen, begannen Sprachforscher in Kriegsgefangenenlagern mit einem Phonographen Stimmen von Häftlingen aufzunehmen. Es ist einer der vielen Stränge, die in diesem Stück aufgemacht werden. Aufgenommenes, das sich durch die Zeit hindurch irgendwie verändert, obwohl es ja gleich bleibt. Die Stimme von damals, die sich heute natürlich anders anhört, mit dem eigenen Erfahrungshorizont nicht mehr zusammenpassen will und fremd wird, obwohl sie doch eigentlich so vertraut ist.

Das Mädchen beginnt, mit grünem Filzstift menschliche Umrisse von außen auf die Fensterscheiben zu malen.

Ein bisschen verliert man sich im Lauf dieser Identitätsrecherche. Wer ist eigentlich wer, und steht zu wem in welcher Beziehung? Auf welcher Zeitebene befinden wir uns grade? Die Leerstellen, die der Text lässt, und die durch eine Inszenierung gefüllt werden könnten, bleiben in der szenischen Einrichtung große klaffende Löcher, in die man reinfällt und nicht mehr rauskommt, weil man am Rand des Lochs immer abrutscht.

Der Filzstift, der jetzt ein orangener ist, quietscht auf dem Glas.

Das Licht im Saal ist nicht ganz aus, sondern gedimmt, und auch deshalb fühlt man sich eher wie auf einem Vortrag als in einer Aufführung. Ein sehr schwerer Vortrag allerdings, der einen beklommen macht. Man schaut an dem Mädchen vorbei und sieht:

Der Wind wird stärker.

Und aus dieser unangenehmen Spannung zwischen der Schwere der Sprache und der durch den Raum bedingten Distanz, die das Gesehene auch als Gesehenes exponiert und damit die Reflexionsmaschine anwirft, ergibt sich das entscheidende Merkmal dieses Abends. Man kann sich nicht vergessen, sondern bleibt anwesend, mit seinem Körper, der stört, mit seinem Ich, das festklebt. Keine Identifikation mit denen da oben. Kein Mitleiden.

Es wird allmählich dunkel. Morgen soll es wieder kälter werden.

 

Eine Version der Geschichte
von Simone Kucher
Einrichtung: Bettina Bruinier
Dramaturgie: Maximilian Löwenstein
Musik: Oliver Urbanski
Ausstattung: Mareile Krettek
Mit: Eva Bay, Felize Ovsepyan, Marie-Lou Sellem, Anne Ratte-Polle, László Imre Kish, Oliver Urbanski und Taner Şahintürk
Dauer: 60 Minuten, keine Pause

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Xaver von Cranach

Studiert Literaturwissenschaft. Er schreibt u.a. für das Literaturkritik-Blog tausendmrd und Spike Art Magazine

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