Live-Blog zum Publikumsgespräch zu „Tod eines Handlungsreisenden“

Heute Abend stellten sich Stefan Pucher und sein Ensemble von der zum tt eingeladenen Inszenierung „Tod eines Handlungsreisenden“ im Radialsystem den Fragen des Publikums. In unserer beliebten Serie „live-blog“ sollten Sie ab 22.30 Uhr erfahren, worüber diskutiert wird. Da der kabellose Netzzugang die Spielstätte aber bereits den ganzen Tag im Stich gelassen hatte, musste auch ich das Blog offline schreiben. Und im Nachhinein hochladen.

22:40: Ein handvoll Enthusiasten sind von einem zahlreichen, eher bürgerlich-gesetzten Publikum übrig geblieben. Mit einer leichten Verspätung geht das Publikumsgespräch los. Der Moderator Tobi Müller kommt auf den Song „I’m set free“ von Velvet Underground zu sprechen, der am Ende von allen Schauspielern musiziert und gesungen wurde.

22:43: Der Regisseur Stefan Pucher versteht den im Song als eine Art Befreiungsschlag. Das gemeinsame Musizieren wäre auf jeden Fall eingeplant gewesen, aber so recht wussten alle nicht wohin damit: „Man trifft sich halt, man macht Musik!“ Ist leider auch so angekommen. Die Musikszene banalisiert das Ende und zwar unnötig.

22:45: Tobi Müller meint, im Stück die Wirtschaftskrise wieder erkannt zu haben. Pucher sieht darin eher die Verarbeitung seiner Englisch-Leistungskurs-Traumas. Das Stück kam ihm damals wahnsinnig düster vor: „Als würde man Krebs kriegen davon!“ Inzwischen sieht er „Den Handlungsreisenden“ als ein paranoid positives Stück mit einer wahnsinnigen Energie von Aufbruch. Deswegen auch der Song am Ende letztendlich als Entspannungsszene für die Protagonisten gedacht. Publikum lacht.

22:48: Tobi Müller: Die Loman-Brothers unterscheiden sich nur wenig von den Lehmann-Brothers und den Menschen der 50er und 60er Jahre. Pucher entgegnet, wenn er in Berlin-Prenzlauerberg sei, wundere er sich immer über die neuen Geschäfte und frage sich, wer da immer die neuen Geschäftsideen hat. Da sei ja schon vorprogrammiert, dass die eingehen werden.

22:53: Tobi Müller ist aufgefallen, dass die Bühne über Distanz funktioniert. Frage an die Schauspieler: Wie spielt ihr das?
Robert Hunger-Bühler (Willy Loman) findet, Distanz gibt Raum. So ein banaler Satz wie „Was siehst du denn so miesepetrig aus?“ über eine 60 Meter-Entfernung zu sprechen, macht Weltgeschichte. Das hat auf Zuschauer eine ganz andere Wirkung.

22:54: Tobi Müller kommt nun zur „Geistererscheinung“ Ben, einer der zentralsten Mythen Amerikas, dem „Frontiersman“. Frage an die Schauspieler: Wie probt man sowas? Markus Scheumann (Ben): Geprobt haben wir vor allem übers Hören und über den Sound.

22:58: Frage an die Jury von Tobi Müller: Was hat Sie am meisten begeistert? Ellinor Landmann fand vor allem die großartige Bühne toll: die großartige Küche und die Lüster. (Das habe ich mir gedacht.) Sie findet, der amerikanische Verführungstraum kommt hier so deutlich raus. Vor allem fand sie es auch gut, dass das Stück in den 50er Jahren belassen wurde und nicht vereinfacht ins Jetzt transportiert. So kann der Zuschauer sich selbst erkennen.

23:00: Tobi Müller bejaht mit dem Zitat „Larger than life.“ Landmann findet es vor allem bemerkenswert, dass bei der Inszenierung die Differenzerfahrung zum Tragen komme. Biff sagt: „Ich möchte endlich das sein, was ich bin.“ Heutzutage sei die Selbstverwirklichung in den Kapitalismus intergriert, meint Landmann.

23:01: Frage an die Dramaturgin Katja Hagedorn: Welche Veränderungen gab es bei der Produktion in Berlin? Hagedorn: Die Schiffbauhalle in Zürich ist viel breiter und tiefer, dadurch ist in Berlin ein Bühnenelement pro Akt ausgefallen. Im ersten Akt war’s ein Büro und im zweiten ein Wohnzimmer. Außerdem standen in Zürich die Gegenstände weiter weg voneinander, so dass die Elemente viel mehr einen „Insel-Charakter“ hatten. Pucher: In Zürich geht der Zuschauer wie in eine Ausstellung. Die einzelnen Szenen sieht man teilweise nur durch Video und manchmal ist der Zuschauer mitendrin. Die Einsamkeit wird auf diese Weise viel stärker transportiert. Das Thema Produkte wird aufgegriffen.

23:06: Tobi Müller spricht vom Glamour als ewigen Schein und  frag sich, ob Linda nicht auch eine Diva sei. Friederike Wagner (Linda Loman) verneint. Für sie verkörpert Linda die Werbewelt, den Perfektionismus und die 50er Jahre: „Sie ist selbst wie ein Produkt der Welt, die sie umgibt.“ Leider funktioniert ihr Leben nicht so, wie sie sich das vorstellt.

23:09: Tobi Müller greift den Arbeits-Ethos auf: „Arbeit muss nicht Spaß machen“ als eine Aussage damaliger Zeit versus „Wir können ja dann auch Schwimmen gehen“ von den Söhnen als zeitgenössisches Element. Sean McDonagh (Biff) korrigiert: „Er (Biff) ist soweit weg von sich, dass es völlig egal ist, ob die Arbeit ihm Spaß macht. Er hat überhaupt kein Fundament, wo er stehen könnte.“ Pucher hebt vor allem die Familie hervor. Der Konflikt zwischen Vater und Sohn erinnere an griechische Tragödien. Die vermeintliche Familienfirma sei ebenso ein Konstrukt wie das des „Familienfriedens“. Es geht hier aber gar nicht darum etwas herzustellen, sondern etwas zu verkaufen. Es sei eben ein kleinbürgerliches Familiendrama, aber das seien wir ja auch.

23:14: Tobi Müller öffnet nun das Gespräch zum Publikum. Als erstes kommt eine Lobeshymne über die tolle Inszenierung, die authentische Darstellung von aktuellen Wirtschaftsproblemen und Wirtschaftsmechanismen. Das tolle Bühnenbild wird ebenfalls gelobt. „Der Handlungsreisende“ sei eben ein zeitloses Stück.

23.16: Publikumsfrage an Friederike Wagner: Warum wurde die Figur der Linda mit einer solchen Ruhe gespielt? Friederike Wagner: Was ich spiele und was die Zuschauer sehen, kann völlig unterschiedlich sein. Lacht. „Linda ist für mich passiv-agressiv,“ meint Wagner. „Sie hält alles zusammen, aber sie weiß schon, was sie will.“ Sie fände das uninteressant, wenn sich Linda im ganzen Stück austoben würde. Pucher fügt hinzu, dass die Machtverteilung zwischen dem Pin-Up Girl und der Mutter und Hausfrau Linda immer wieder wechselt.

23:22: Tobi Müller listet Zürich als eine der reichsten Städte der Welt auf und fragt sich, ob die Wirktschaftskrise in der Schweiz überhaupt angekommen ist. Pucher meint, vor allem der Generationskonflikt zwischen Vater und Sohn wäre angekommen. Robert Hunger-Bühler fügt hin zu, dass die Vorstellung 33mal in Zürich gespielt wurde und immer ausverkauft war. Inzwischen sei das Stück abgesetzt, weil das Theater vermeint keine Lagermöglichkeit für die Ausstattung habe. Er kommt noch einmal auf die Wirtschaftskrese zurück und verweist auf die Situation, dass sich Zürich viele Züricher nicht mehr leisten können. Er überlegt nochmals wegen seiner Figur: „Was wäre das Äquivalent zu Willy Loman?“ Höchstwahrscheinlich ein Held durch eine heroische Handlung.

02:20: Ende meiner heroischen Handlung. Live-Blog posthum online gestellt.

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Anna Deibele, 1982 im Nordkaukasus/ Russland geboren, mit neun Jahren nach Deutschland eingewandert, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin und Madrid. Seit 2007 arbeitet sie als freie Radio-Autorin aus dem In- und Ausland, unter anderem für die Deutsche Welle, Deutschlandradio Kultur, WDR Funkhaus Europa und mdr Figaro. Außerdem unterrichtet sie argentinischen Tango und Klavier. Sie lebt in Berlin.

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