Mensch und Maschinerie

Nicht enden wollender Applaus und standing ovations – die Theatertreffen-Premiere von Luk Percevals „Kleiner Mann – was nun?“ fand großen Anklang.  Ebenso wie der seichte Humor, der leider neben der Textlastigkeit einen mehr als nur „bemerkenswerten“ Abend verhinderte.

Der Mensch ist schon am Boden: "Kleiner Mann – was nun?" von Luk Perceval. Foto: Andreas Pohlmann.

Lug und Trug beherrschen die Bühne in Luk Percevals Bühnenadaption von Hans Falladas 1932 geschriebenen Roman „Kleiner Mann – was nun?„. Überlebensgroß zerfließen Bilder aus Walter Ruttmanns Film „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ (1927) auf schwarzen Wänden und täuschen in ihrer extremen Verlangsamung und einer daraus entstehenden, menschlichen Haltung gegenüber seinem Berlin der zwanziger Jahre über den distanziert-experimentellen Blick hinweg, der den Film eigentlich beherrscht. Nicht weniger prominent dominiert ein selbstspielendes Orchestrion die Mitte der Bühne von Annette Kurz, leuchtet warm und einladend, spielt tröstende Melodien – und doch klingt es seltsam mechanisch, gefühllos, drängt sich der beunruhigende Gedanke auf, dass dieses tönende Multi-Instrument aus einer verklärten Vergangenheit ebensogut das ultimative Rationalisierungsprodukt der Zukunft sein könnte, das den lebenden Musiker aus Kostengründen durch eine Leben vorgaukelnde Traummaschine ersetzt.

Allmähliches Zugrundegehen

Und um dieses schreinartige Gebilde herum, immer wieder angezogen von diesem zweifelhaften Trost spendenden, goldenen Kalb, im Licht der Projektion, spielen Schauspieler, tun so als ob, führen den unaufhaltsamen Niedergang des kleinen Mannes auf. Immer wieder sprechen sie selbst Romanfragmente (und damit auch Handlungsanweisungen), fallen aus ihren Rollen oder auch: übernehmen eine zusätzliche, eine andere Rolle: Selbst die Regieanweisungen müssen diese gebeutelten Figuren noch mitsprechen (nicht selten sogar die der anderen), nicht einmal ihre Gedanken und Gefühle, ihre Ängste und Sorgen dürfen sie für sich behalten. Und unter dem ständigen Druck einer allgegenwärtigen Beobachtung – einer Beobachtung, die bereits in ihren Köpfen entsteht – gehen sie langsam, aber allmählich zugrunde.

Es sind dann auch die seltenen Momente der Stille beziehungsweise des erlösenden Gesangs, die zu den schönsten und ergreifendsten Augenblicken in Percevals vierstündiger und enorm textlastiger Inszenierung gehören: Jene Lücken, in denen sich die Möglichkeit eines anderen Daseins erahnen lässt, in denen die auf vielfältige Weise bewegende Musik von Mathis Nitschke aus dem gleichsam teilnahmslosen wie involvierten Orchestrion bedrohlich-kommentierend ertönt und ganz plötzlich Fragen im zwar kargen, zeitgleich aber durch den unaufhaltsamen Sprachfluss bis zum Überlauf angefüllten Raum entstehen. Dass diese flüchtigen Leerstellen über weite Strecken des Abends zwischen dem erst in der letzten Stunde unter die Oberfläche gelangenden Schauspiel und dem meist folgenlosen und anbiedernden Humor untergehen, ist dabei leider die große Schwäche des Abends, der mit weniger Worten und mehr Mut zu selbstsprechenden Bildern das Potential durchaus bewegenden und weltbewegenden Theaters hätte haben können.

So aber verdrängen der omnipräsente Text und die wenig differenzierten Rollenzeichnungen die wahren Stars des Abends: Jene anderen, wunderbar-zwiespältigen Inszenierungselemente wie Bühne, Projektion und Musik, die ihrerseits wiederum in ihrer konzeptuellen Überlegenheit die (über weite Strecken leider nur potenziell) brillanten Schauspieler übertrumpfen. Und damit ja auf der anderen Seite einen weiteren Kampf zwischen Mensch und Maschine(rie) abbilden, der schlussendlich den Bogen hinaus aus dem Theater in unsere Wirklichkeit schlägt.

Nachtrag am Abend danach:

Als ich heute in der U-Bahn fuhr, schoss mir plötzlich das Schlussbild von „Kleiner Mann – was nun?“ durch den Kopf: Wie der „kleine Mann“ dort steht mit bis zum Anschlag gesenkten Kopf, verkrampft vor Scham und Verzweiflung, wie seine Liebste und er langsam nach hinten an die Rückwand der Bühne gehen, Arm in Arm, und das Orchestrion eine beunruhigende Musik spielt – leise Orgel-Akkorde und schließlich zwei hohe Klaviertöne, die bedrohlich in der Tiefe des Raums verhallen. Jetzt, aus der Erinnerung, bewegte mich dieses Schlussbild auf einmal ungemein – und so halte ich es für angebracht, an dieser Stelle trotz der oben genannten Schwächen noch einmal eine Lanze zu brechen für die tiefe und aufrichtige Liebe, den Respekt und den von Herablassung und Zynismus gänzlich freien Blick, den Luk Perceval seinen Figuren entgegengebracht hat: Eine seltene und hohe Qualität, die nur wenigen Inszenierungen innewohnt, ohne dass diese in eine kindliche Naivität abdriften.

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Kai Kroesche

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