Theater 2.0 – vernetzt, verheddert, aufgeknüpft?

Eine Betrachtung der eingeladenen Theater und ihrer Netzaktivitäten
„Von 100% auf 99 ist doch keine Steigerung“, lässt René Pollesch Fabian Hinrichs in „Kill Your Darlings!“ sagen. Dieser Satz bringt die Absurdität von Rankings auf den Punkt: Fast immer sind sie unbrauchbar. Doch heutzutage wird so ziemlich alles irgendwie „gerankt“ – und wenn es nur die „Gefällt-mir“-Klicks bei Facebook sind. Also los: Ginge man nach diesen, läge das Thalia Theater unter den eingeladenen Häusern ganz vorne. Vor ein paar Tagen haben die Hamburger die 8.000er-Marke geknackt: Das ist augenblicklich Rang eins beim Theater-Facebook-Ranking. Ein Grund zu feiern?

Beweisen aber nun 6.844 Facebook-Fans, dass die Berliner Volksbühne ganz allgemein in Sachen Beliebtheit und Erfolg auf Platz zwei liegt? Laut Theatertreffen-Jury gibt es dort gleich drei bemerkenswerte Inszenierungen zu sehen, und bei der jungen Publikumsmischung darf man annehmen, dass die Volksbühnen-Gemeinde netzaffiner ist als die hanseatische. Was also macht das Thalia dennoch zum größeren Facebook-Magneten? Anders als die Volksbühne bezieht das Thalia bei Aktionen und Projekten das Internet offensiv mit ein. Spätestens mit der öffentlichen Spielplanwahl Ende letzten Jahres aber hat sich das Thalia weit aus dem Fenster gelehnt, soweit, meinen manche, dass es einem Fenstersturz gleichkam. Keiner wagte zuvor, über die Hälfte seiner Neuinszenierungen (am Großen Haus) von der Öffentlichkeit (inklusive der Netzöffentlichkeit) wählen zu lassen – und ziemlich sicher wird das so schnell auch keiner mehr machen. 5.529 Stimmen wurden abgegebenen. Die Wahl wurde gekapert (von ein paar Findigen mit genügend Facebook-Freunden). Und heraus kam, dass es zumindest etwas zu kapern gab. Hurra, es leben die Piraten.
 
Kill your Rankings
Till Briegleb schrieb in der Süddeutschen Zeitung, die Abstimmung sei so hilfreich gewesen „wie ein kongolesischer Diktator“. Nach so einem Kommentar ist es natürlich nicht leicht, sein Scheitern einzugestehen. Und so bringt das Thalia in der kommenden Spielzeit nun drei der öffentlich gewählten Stücke auf die Bühne – nach dem Motto: „Jetzt erst recht, ihr wolltet es ja nicht anders.“ Ob die 5.529 Abstimmer überhaupt regelmäßige Thalia-Besucher sind und die gewählten Stücke ansehen werden? Und ob das Stammpublikum des Thalias von der Abstimmung profitieren wird? „Theater ist – im Übrigen wie das Internet – ein Ort des Spiels“, sagte Thalia-Intendant Joachim Lux. Ja, warum bespielt das Internet dann keiner konsequent? Das Internet ist doch nicht nur für Schaufensterauslagen mit Like-Button gut. Es wäre ein vielversprechender partizipatorischer Spielort, neben dem realen Haus aus Stein und Mörtel. Das Theater als größter Echtzeitproduzent könnte sich mit Hilfes des „Real-Time-Modus“ des weltweiten Netzes wirklich eine neue Dimension eröffnen – und umgekehrt. Wie bei Sozialen Netzwerken üblich könnte man etwa sichtbar machen, wie viele Menschen zum jeweiligen Zeitpunkt anwesend sind. Das wäre doch mal eine schöne Anzeigetafel in einem Theater-Foyer: aktuell im Haus 972 Zuschauer, 15 Schauspieler, 7 Beleuchter, 6 Kassendamen, 5 Tontechniker, 5 Gardarobieren, 3 Brezelverkäufer, 1 Inspizientin…. Das würde einem „Normalsterblichen“ vielleicht auch illustrieren, dass an einem großen Haus bis zu 300 Leute beschäftigt sind, um eine Inzenierung zu ermöglichen.

Die Burgtheater Landingpage


Spielstätten und Spielräume
Theater wollen soziale Orte sein, öffentliche Plätze, und als solche ihren Teil beitragen zur Identität der Stadt. Doch manches Mal kommt es einem vor, als wollte sich das Theater beliebt machen, beim Publikum geradezu anbiedern, und allzu oft mündet genau das in Beliebigkeit – siehe die Facebook-Seite Thalia Theater goes Wilhelmsburg. Ganz anders das Berliner HAU: Da macht sich keiner beliebt; man will nicht mal unbedingt verstanden werden. Das Hebbel am Ufer wurde zu einem der wichtigsten Diskursräume Deutschlands, wenn nicht Europas. Partizipation ist bei den meisten Produktionen Teil des Konzepts. Das Publikum soll längst nicht mehr nur klatschen oder ruhig auf Stühlen sitzen. Man ist eher Besucher im eigentlichen Wortsinn, wenn es etwa eine performative Installation von Walid Raad zu begehen gibt (2011), oder man wird gleich zum Akteur, wenn der Unterschied zwischen bezahlendem Gast und Performer verschwindet, wie in Dries Verhoevens großartigem „You Are Here“ (2011). Im Internet bleibt das Feld ganz unbestellt: Der HAU-Internet-Auftritt ist mit Abstand einer der benutzerunfreundlichsten (es gibt keine Suchfunktion und man muss sich durch die drei Spielstätten und Kalender wühlen, wenn man etwas finden möchte). Selbstverständlich ist das HAU auf Facebook (das sind die Theatertreffen-Theater alle, auch wenn keiner wirklich die Web-2.0-Gebote von „express, connect, share“ ausreizt), aber insgesamt gibt es sich abweisend – als hätte man es nicht nötig, das Programm verständlich zu kommunizieren. Das jedoch sollte Mindestanforderung sein – auch vor neun Jahren schon, als Lilienthal mit seinem Team das HAU übernahm.
 
Farbe war gestern
Bei der Online-Theater-Ästhetik geht der Trend deutlich in Richtung monochromer Sperrigkeit. Farbe ist out, jedenfalls bei den großstädtischen Theatern. Positiv könnte man das interpretieren als Rückkehr zum Wort; Bilder muss man suchen oder extra anklicken. Bonn und Hamburg sind die einzigen Häuser, die auf ihren Startseiten überhaupt ein Bild zeigen. Bei den Münchner Kammerspielen sucht man am längsten, um wenigstens ein Schwarz-Weiß-Foto zu Gesicht zu bekommen. Beim HAU sucht man vergebens. Versteht sich das Theater hier als gottähnliche Institution, frei nach dem zweiten Gebot: Du sollst dir kein Bild machen? Dass aber ein Bild mehr als tausend Worte sagt, ist nicht nur ein Sprichwort, sondern mittlerweile gehirnphysiologisch nachgewiesen (je konkreter und bildhafter das Wahrgenommene, desto mehr Gehirnareale sind aktiviert, weswegen wohl das Theater seit rund 2500 Jahren aus Worten Bilder produziert).

Online-Spielplan Thalia Theater Hamburg


Darf es ein bisschen weniger sein?
Der optische Gesamteindruck ergibt: Die deutsche Theaterlandschaft ist vor lauter Coolness ins Koma gefallen. Es fehlt an Leben, auch wenn sich das HAU neben Schwarz immerhin ein Rot gönnt – in Bonn ist es ein undefiniertes Grün. Sonst wird an Farbe gespart, als gelte es, einen Wettbewerb des Unbunten zu gewinnen. Beim Wiener Burgtheater hatten zumindest die Texter mal ein paar vergnügliche Stunden (allerdings hält man die Sechs-Wort-Prosa im Kopf der Seite im ersten Augenblick für Navigation). Abgesehen davon: spaßfreie Zone. Und das von Wien bis Hamburg. Wie wäre es denn mit ein wenig Auf-Fritschung für die Online-Auftritte? Das Publikum liebt die Mischung aus Ernsthaftigkeit und Ironie eines Herbert-Fritsch-Abends, weil man auch mal herzhaft lachen darf. So dankbar ist man als Zuschauer, wenn man erleben darf, dass Bühnenschaffende Spaß an der Arbeit haben. Ob die Theatermacher Land auf, Land ab wirklich so wenig Freude haben, wie ihre Internet-Auftritte ahnen lassen? Man wünscht ihnen ein Vielfaches davon – und dass sie uns als Zuschauer dann daran teilhaben lassen.
 
Publikum heißt: der Allgemeinheit gehörig
Vielleicht sind die deutschsprachigen Theater gerade in Zeiten des heraufgeschriebenen „Kulturinfarkts“ und knapper Kulturkassen dazu aufgefordert zu hinterfragen, ob das „World Wide Web“ wirklich nur als Zuschauerfanginstrument taugt – und nicht doch als Medium, das es in alle Richtungen  durchlässig zu gestalten gilt. Würden Theater ihr Publikum, und damit auch die vernetzte Öffentlichkeit, ernst nehmen und nicht nur auf der Bühne davon erzählen, woran sie glauben, könnten sie Führung übernehmen, Vorreiter sein, als Stammeshäuptlinge ihre virale Rolle in der Zivilgesellschaft wahrnehmen – anstiften, anregen, bewegen. Mit neuartigen Netzbespielungen hätte das Theater – jedes Theater vor Ort, in seinem sozialen Umfeld und darüber hinaus – eine reale Chance, tatsächlich als öffentlicher Raum Öffentlichkeit herzustellen, als echte Plattform wahrgenommen und genutzt zu werden. Am Ende könnten auf diesem interaktiven Wege auch konkrete und sinnstiftende Impulse von außen ins Theater hineingetragen werden: ein Risiko, das man eingehen sollte.

Illustration Beni Bischof, Wiener Burgtheater


Die Tops und Flops im Netz
HAU   Top: Livestream und Blogs zu Interaktionen //  Flop: Spielplan wie Newsletter ähnlich unübersichtlich
Bonn   Top: gut gepflegter you tube kanal // Flop: Newsletter wenig einfallsreich
Burg   Top: nette Illus als Randbemerkungen // Flop: Gästebuch einziger Zuschauerdialog
Kammerspiele   Top: 14 min Blick hinter die Kulissen // Flop: Stücke-Videos wortkarg wie Stummfilme
Thalia   Top: Kommentarfunktion bei jedem Stück // Flop: Fotoshooting Video nervt
Volksbühne  
Top: Gob Squad hat schon mal social media in Inszenierungen einbezogen // Flop: Josefsohn Kunstvideos, die man lustig finden kann

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Gudrun Pawelke arbeitet seit vielen Jahren im Bereich der Kulturkommunikation, war und ist für große Häuser und kleine Produktionen kommunikativ beratend tätig und: brennt für Theater. Sie unterrichtet und gibt Workshops zum Thema Gestaltung, Kreativität und Inszenierung von Information. Sie schreibt für Fachmagazine und ist seit 1996 Mitglied im Type Directors Club New York.

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