Theater und Kollektivität – schöne Utopie oder schöner Schein?

Beim Theatertreffen 2012 sind mit Gob Squad und dem International Institute of Political Murder gleich zwei Theater-Kollektive geladen. Auch Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdtsen arbeiten als Regie-Team, Nicolas Stemann oder René Pollesch betonen immer wieder die Bedeutung von kollektiven Aushandlungsprozessen in der Gruppe. Und beim Stückemarkt ist in diesem Jahr mit „Polis3000: respondemus“ von Markus&Markus erstmalig auch ein Projekt ausgewählt worden.
Ein Blick auf die zehn Nominierungen zeigt, dass die meisten mit dem Begriff „Kollektivität“ – mehr oder weniger direkt – in Verbindung gebracht werden können… Stellt sich also die Frage, ob die Zeit der autokratischen Star-Regisseure vorbei ist? Zeichnet sich beim Theatertreffen 2012 eine Tendenz des Gegenwartstheaters zu mehr Kollektivität hin ab?
„Wir haben keinen tieferen Plan und keine hierarchischen Strukturen, […] keinen Genie-Kult wie im Theater üblich.“
Gob Squad bezeichnen sich explizit als Kollektiv: “We are an artists collective, the 7 core members working collaboratively on the concept, direction and performance of our work. Other artists, performers and technicians are invited to collaborate on particular projects.” Wer die Projekte von Gob Squad oder auch von SheShePop verfolgt, nimmt ihnen diesen Anspruch an ihre Arbeit und Arbeitsweise auch ab, hier wird die Devise „Das Private ist politisch“ offenbar ernst genommen. Johanna Freiburg [sowohl bei Gob Squad als auch bei SheShePop involviert] betont hierbei, dass gerade der fiktive Rahmen einer Inszenierung Fragen ermöglicht, die im wirklichen Leben oft gar nicht gestellt werden.

Kurzer Rückblick: SheShePop wurde 2011 zum Theatertreffen eingeladen, im Jahr zuvor war das Nature Theater of Oklahoma als Kollektiv aus der Off-Szene vertreten. Die Tatsache, dass kollektive Arbeitsformen häufiger in der Off-Szene als an Stadttheatern zu finden sind, lässt die Frage aufkommen, ob dies mit den unterschiedlichen Produktionsbedingungen zusammenhängt?
Der Duden definiert „Kollektiv“ als „Gruppe, in der Menschen in einer Gemeinschaft zusammenleben“ oder „Gruppe, in der Menschen zusammenarbeiten; Team“ oder „(in sozialistischen Staaten übliche) von gemeinsamen Zielvorstellungen und Überzeugungen getragene Arbeits- oder Produktionsgemeinschaft“. Nach diesen Definitionen könnte eigentlich Theaterarbeit per se als kollektiv bezeichnet werden… aber:
Ist Kollektivität am Theater überhaupt möglich – oder war Theater sowieso schon immer kollektiv?
Diese Frage habe ich dem „Faust I+II“-Schauspieler Sebastian Rudolph gestellt. Er selbst beschreibt sich als in der Off-Szene sozialisiert. Später war er mit Regisseuren wie Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief oder Nicolas Stemann verbunden, so dass er die unterschiedlichen Produktionsbedingungen kennt und weiß, dass bei beiden Engagement und Selbstausbeutung Hand in Hand gehen. Er nimmt auch die Veränderungen in Stadttheatern wahr, in denen zum Beispiel immer häufiger feste Assistenzstellen durch prekäre Hospitanzen ersetzt werden und somit feste und eingespielte Teams seltener werden. Fest eingespielte und vertraute Teams sieht Rudolph aber als wichtiges Element produktiver Theaterarbeit. Mit Nicolas Stemann ist er, genau wie die Schauspieler Philipp Hochmair und Patrycia Ziolkowska oder der Dramaturg Benjamin von Blomberg, schon seit Jahren eng verbunden und die hierbei entstandenen Inszenierungen „Ulrike Maria Stuart“ und „Die Kontrakte des Kaufmanns“ waren ebenfalls zum Theatertreffen eingeladen. „Faust I+II“ würde er auch als Ergebnis einer sehr offenen Teamarbeit beschreiben, die vor allem durch den Mut von Stemann als Regisseur bestimmt wird, der seinen Schauspielern innerhalb eines bestimmten Rahmens großen Spiel- und auch Entscheidungsraum gewährt – ohne letztendlich die Kontrolle zu verlieren.
Offenbar arbeitet auch René Pollesch gerne mit eingespielten Teams, mit dem Schauspieler Fabian Hinrichs hat er beispielsweise bereits 2010  „Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!“ erarbeitet. Zum Theatertreffen 2012 ist nun „Kill your Darlings!“ eingeladen und hier wird auch inhaltlich der Bezug zum Thema offensichtlich: „Das extrem störanfällige Verhältnis des Individuums zum Kollektiv unter heutigen Vorzeichen“ wird umgedeutet , wie es in der Jury-Begründung heißt. Und wenn Hinrichs sich mit dem akrobatischen Chor auseinandersetzt, kommen so wunderbare Zitate wie dieses vor: „Die Kritik war orientierungslos; denn: sie wusste eine ganz lange Zeit nicht, mit welchem Gesicht der Kapitalismus wieder auftauchen würde, aber dann war klar – es waren die Netzwerke. Dahin war er verschwunden, um sich der Kritik zu entziehen, in ein Netzwerk!“
Nimmt man nun auf der inhaltlichen Ebene das Verhältnis des Individuums zum Kollektiv, also zur Gemeinschaft oder Gesellschaft, als Maßstab, kann ohnehin praktisch jedes Theaterstück in eine Diskussion über Kollektivität miteinbezogen werden, vom Streben nach Macht des Macbeth über das Verharren in Konventionen des Platonov bis zum Volksfeind.
Momentan werden im Theater offenbar die Negativseiten des Kapitalismus oder unserer Gesellschaft häufiger thematisiert als positive Gegenentwürfe, was als Ausdruck einer Sehnsucht, oder – im sozialwissenschaftlichen Jargon – eines „Kollektivbedürfnisses“ interpretiert werden könnte. Ob dieses Bedürfnis allerdings auf tatsächliche Auseinandersetzung und Konfrontation oder eher auf Katharsis und Neutralisierung von Reibungen und Widersprüchen zielt, sei dahingestellt.
Aber auch wenn auf der Bühne gerne und oft Themen wie Kapitalismus- und Gesellschaftskritik verhandelt werden, bedeutet das logischerweise nicht, dass das Theater als Institution oder Betrieb diese Themen auch in die Praxis umsetzt. Hier erfüllt Theater eher die Funktion einer Projektions- und Experimentierfläche: eine Spielwiese, auf der alles möglich scheint. Ohne Konsequenzen. Oder besser gesagt: fast ohne Konsequenzen. Denn wie immer und überall liegt auch hier die Verantwortung bei jedem einzelnen: Was nehme ich mit, welche Schlüsse und Konsequenzen ziehe ich aus dem Gesehenen und Erlebten?
„Die besten Szenen werden wir heute Abend nicht zeigen, denn die könnten wir alle gar nicht ertragen.“ Kill your darlings!

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Adrian Anton, 1978 in Bad Hersfeld geboren, lebt und arbeitet in Hamburg als „freier" Kulturwissenschaftler. In der Praxis bedeutet das vor allem Individualisierung, Flexibilität und Mobilität im (Bildungs-)Prekariat als Ergebnis eines Studiums mit Magister-Abschluss in Volkskunde/Kulturanthropologie, Anglistik und Museumsmanagement. Seine Berufserfahrungen reichen von Bestattungen über PR und Tagungsorganisation bis zu Museumspädagogik. Derzeit forscht und schreibt er unter anderem zum „armen Tod". Bei all dem „work in transit" bilden Theaterbegeisterung und der Wille zu schreiben Konstanten, etwa das seit 2009 aktive Blog „FLÜSTERN + SCHREIE".

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