„Bin ein Mensch, ein Mensch für eine Weile.“

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Das dritte Stück des Festivals. Sebastian Hartmann inszeniert Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“. Der philosophische Text aus dem 19. Jahrhundert hat seinerzeit viele provoziert, genauso wie die Stücke Hartmanns heute. 

Wir sehen Auszüge aus Stirners Text zum Musical verarbeitet, getaucht in schwarz-weißen Ästhetiken, die an Film noir erinnern. Der Abend ist eine Schau, ein musikalisches Fest des Individualistischen, das sich gleich des schneckenförmigen Turmes auf der Bühnenmitte in die Höhe schraubt, nur um in dieser Höhe immer wieder seine Brüchigkeit zu exponieren. Auf skurrile Weise tritt das Monströse hinter den Feierlichkeiten hervor. Hartmann bringt die Zuschauenden zum Lachen, obwohl ihnen kaum danach sein dürfte. Das fühlt sich wie Schluckauf an. Und soll es wohl auch.  

Deutlich wird dieser innere Widerspruch zum Beispiel wenn das Ensemble in glitzernder Entertainment-Garderobe eine gelungen-misslungene Choreographie zum Besten gibt, die nach außen lächelt, nach innen wimmert. Die entstellten, krampfigen Bewegungen der Unglücklichen geben das Leid preis, welches der Zwang der Selbstinszenierung den Spielenden aufzubürden scheint. Man kann sich erinnert fühlen an Willy Pragers Transformability, in dem die permanent hüpfenden Performer*innen ebenfalls die absurde Rastlosigkeit getriebener Leistungs-Subjekte zur Schau stellen. In Pragers Stück sind die Darstellenden in biografischen Rollenbildern gefangen und oszillieren unentwegt vor Anspannung, wodurch denn auch alle Vorhaben – etwa das Trinken von Getränken oder das Weiterreichen von Geldstücken – gründlich misslingen. Ähnlich spektakulär scheitert das Glamour-Moment des Hartmannschen Äquivalents, es ergraut gerade indem es funkeln möchte. „Wenn ich sage ich liebe die Welt, sage ich zugleich ich liebe sie nicht“, heißt es an einer Stelle.

Derartige Verzerrungen durchziehen das Stück. Der Grad, in dem sich das böse Spiel unter den guten Mienen offenbart, schwankt dabei und reicht hin bis zu kafkaesken Fieberträumen. Etwa wenn das Ensemble sich in Gesprächen ergeht, die mimisch zwar Unterschiedlichstes ausdrücken, verbal allerdings einzig das in unterschiedlichen Nuancen gesprochene Wort „Vielleicht“ wiederholen. Eine tragisch-komische Allegorie der Ohnmachtsgefühle des neoliberalen Menschengeschlechts unserer Zeit. Das Subjekt, das sich seiner selbst nicht mehr sicher ist.

Was bedeutet das nun alles? Mit welcher Motivation zieht ein theatermachender Mensch heute Stirners Text aus dem Schrank und tischt ihn als „Bittersweet Symphony“ dem Publikum auf? Interessanterweise kam Stirners Text in der Geschichte immer dann zu besonderer Aufmerksamkeit, wenn seine Kritiker ihn verlegten, um sein Denken durch entsprechende Kommentierung „unschädlich“ zu machen. Während Stirners Ideologie also von der Kritik an ihr profitierte, war „Der Einzige und sein Eigentum“ zugleich der produktive Hebel, um seine eigene Widerlegung hervorzubringen. So habe das kritische Abarbeiten an Stirner, laut heutigen Nachforschungen Karl Marx wesentlich zur Entwicklung seiner Theorie des Historischen Materialismus angeregt. So dialektisch ist die Welt und wir können Sankt Max, wie Marx und Engels Stirner zynisch tauften, womöglich dankbar für sein Werk sein. Ist Hartmanns Stück insofern als verdrehte Ehrung Max Stirners zu lesen, die in entsprechender Dosis verabreicht ihr eigenes Negativ hervorrufen soll? Ist die Wiederbelebung „des Einzigen“ ein Hilferuf an die Theorie?

Die abschließende Frage wäre, was nach der Absage an den Individualismus kommt. Eine Liquidation des autonomen Individuums durch die gleichgeschaltete Masse hat die Menschheitsgeschichte bereits schmerzlich zu verzeichnen. Vielleicht sollte Hartmann der Vollständigkeit halber also noch eine Fortsetzung unter dem Titel „Das Kollektiv und sein Eigentum“ in Betracht ziehen.

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