„Man kann sich die Familie aus dem Körper hungern.“

Die „Nora“ der Münchner Kammerspiele beginnt mit einem neuen Anfang, in dem die Protagonist*innen ihre Positionen im bevorstehenden Stück reflektieren. Mehrfach wird wiederholt, es gehe im Stück wesentlich um ein Haus. Die Assoziationskette Haus – häuslich – Frau scheint die naheliegendste Interpretation dafür zu sein. Ebenfalls wird auf die untergeordnete Rolle der Bediensteten hingewiesen, sowohl wie auf die Überpräsenz des Helmers, dem Patriarchaten des Stücks. Nora verhält sich in diesem Anfangsteil raumgreifend und dominant. Despotisch geht sie ihre Mitspielenden und allen voran ihre Angestellten an. Ihrem Mann folgt sie indes konsequent und pocht stoisch darauf, mit ihm gemeinsam in der ersten Zeile zu stehen und in einem Atemzug genannt zu werden. So verhält sie sich zunächst einerseits entsprechend ihrer Situierung, legt andererseits selbst Verhaltensweisen an den Tag, welche mit patriarchalen Stereotypen in Verbindung gebracht werden können. Dieses Ringen mit Widersprüchen kulminiert, indem sie breitbeinig auf dem Tisch steht und „Fick das Patriarchat!“ brüllt, als wäre sie in einem Fußballstadion. Eine entwappnende Darbietung, das Publikum jubelt ihr zu. 

Nachdem der Prolog abgeschlossen ist, erfüllt eine kopfüber stehende Fassade eines Wohnhauses die Bühne. Dieser werden im Verlauf des Stückes unterschiedliche Wetterlagen aufprojiziert. Nach unten rinnendes Regenwasser sieht auf Grund des Kopfstandes aus wie die aufsteigenden Blasen eines Aquariums: Ein behaglicher und durchaus beschränkter Ort, an welchem Wesen mit vermeintlich geringen intellektuellen Bedürfnissen gut eingehegt werden können. 

Im Folgenden bleibt Nora zunächst unverbrüchlich und bestätigt ihre Position an der Seite des Mannes. Erst im weiteren Verlauf, als ihre harte Hülle nach und nach bröckelt und Noras tragische Leidenschaft zum Vorschein kommt, vollzieht sie einen tatsächlichen Bruch mit den sie umgebenden patriarchalen Strukturen. Sie büßt ihre scheinbare Überlegenheit ein und gerät in einen Problemstrudel. Schließlich zieht sie die Reißleine und entkommt ihrem Schicksal. „Man kann sich die Familie aus dem Körper hungern“ rutscht ihr über die Lippen, sie verlässt Mann und Kinder. 

Downgirl

Während der Leidensdruck Noras ihr die Emanzipation abtrotzt, spornt selbiger Helmer gegen Ende des Stücks zu patriarchalen Hochleistungen an. Nachdem der offenbarende Brief von Krogstad im Briefkasten des Hauses – welcher als eine Art gläserne Wahlurne während des gesamten Stückes über der Bühne schwebt – landet und Helmer von den geheimen Taten Noras erfährt, erfährt das Stück zugleich den nennenswertesten psychologischen Moment seiner Figur. Wir erleben eine Vorführung der männlichen Psyche, die sich mit selbiger Darstellung in „Höhere Gewalt“[1], dem 2014 erschienenen Film von Ruben Östlund, vergleichen lässt. In beiden Geschichten erleidet der Mann einen Niederschlag in seiner Position als Souverän und muss diesen, gleich eines hilflosen Kindes, triumphal leidend zur Schau stellen. Er empfindet tiefe Genugtuung in der aus seiner Sicht gerechtfertigten Darstellung des ihm widerfahrenden Unrechts, sodass er glaubt, ihm stehe infolgedessen die Zuneigung und der Trost seiner Frau a priori zu.

Bei Östlund gipfelt dieses Motiv in der Perversion, dass die beiden Kinder sich um den Vater sorgend, an ihn klammern und mit ihm weinen, während dieser in Embryonalstellung auf dem Boden schluchzt. Die fassungslos daneben stehende Frau bekommt Anfeindungen ihrer Kinder an den Kopf geworfen, wieso sie Papa nicht helfe. So lässt sie sich schließlich, geschlagen von der Reproduktion ihrer Unterwerfung, verkörpert in ihren eigenen Kindern zur kauernden Gruppe nieder und macht willenlos mit. Ebenso rückgratlos wie die männliche Rolle im Film erleben wir Helmer, der in sekundenschnelle seine Haltung verliert. So werden wir der inneren Kleinheit eines männlich Sozialisierten gewahr, der sich von der emotionalen Umsorgung einer Zweiten durchs Leben chauffieren lässt. 

Das männliche Selbstverständnis, ein Anrecht auf ebendies zu haben, eröffnet ihm die absurde Vorstellung, die Frau stehe in seiner Schuld, verwehrt sie ihm dies. So entfahren ihm im Folgenden misogyne Auswürfe[2], in denen er etwa erklärt, Nora sei nunmehr krank. Klar, wer die Gesetze der Geschlechter sprengt, muss selbstverständlich „krank“ und kann „kein echter Mensch“ sein, wie Helmer gehässig feststellt. Er schlägt etwas später vor, einen Maskenball zu besuchen, dann könne Nora endlich wer anders sein. Er betont das gönnerisch, als sei offenkundig, dass dies der allgemeine Wunsch – auch Noras – ist. Helmer kennt Nora den Status als Menschen ab und macht sie zum Scheusal, das sich am besten unter der Verhüllung beträgt. Und das alles, weil sie ihn nicht ausreichend umsorgt. Weil sie ausbrechen möchte.

Die Klassenfrage

Die Stimme der Kinderfrau Anne-Marie, die zu Beginn einige ausschließliche Worte über die Lautsprecher spricht, weil ihre körperliche Repräsentation wegrationalisiert worden sei, taucht im restlichen Stück nicht wieder auf. Ist das ein liegengelassener Faden oder ein Statement? Es lässt sich durchaus sagen, dass die Klassenfrage, welche anfangs angereizt wurde, im Verlauf des Abends mehr und mehr in den Hintergrund rückt. Ihren „Abgang“ feiert sie mit einem pompösen Zweierauftritt von Frau Linde und Krogstad, die große Possen vom Stapel lassen, welche uns glauben machen eine baldige Übernahme der Geschichte durch die subalterne Macht stehe bevor. Es geschieht jedoch nichts. Die beiden scheiden damit kommentarlos aus dem Stück aus. Ein Auf-den-Kopf-stellen der Verhältnisse, das sich so schön verquer zum bühnenbildnerischen „Auf-die-Beine-stellen“ des Hauses, welches gegen Mitte des Stückes gedreht wird, verhalten hätte, bleibt aus. Wir sind schließlich nicht in „Triangle of Sadness“[3], auch wenn obige Parallele zum Östlundschen Werk auszumachen ist. Nicht zu vergessen ist jedoch die emanzipatorische Bedeutung der Taten Noras, die in gewissem Sinne durchaus die Verhältnisse in Frage stellen – zumindest zu Ibsens Zeiten.

Als abschließende Tat greift die Protagonistin zu extremistischen Mitteln und vernichtet das Haus. Eine große Geste? Ein Befreiungsschlag? Musste als letzter Eindruck das sehr direkte Video eines explodierenden Hauses eingespielt werden, weil der Abend selbst dieses Bild nicht in den Köpfen des Publikums zu evozieren vermochte? Beim Applaus jedenfalls gab es Standing Ovations. Zunächst allerdings nur von einer einzigen Frau, die sich getraute aufzustehen, um einem Stück zu huldigen, in welchem eine Frau Selbiges tat. Es dauerte eine Weile, bis sich weitere dazugesellten.


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%B6here_Gewalt_(Film)

[2] Ich beziehe mich auf die Definition misogyner Wirkdynamiken nach Kate Manne und ihrem Band „Downgirl“ von 2019.

[3] In Ruben Östlunds 2022 erschienen Film „Triangle of Sadness“ erleidet ein Luxuskreuzer Schiffbruch. Einige Überlebende stranden auf einer Insel. Die zuvor bestehenden Klassenverhältnisse werden hier auf den Kopf gestellt, da die vorherige Putzfrau Abigail als einzige die Fähigkeiten mitbringt, unter diesen Umständen für das Überleben der Gruppe zu sorgen. Sie etabliert eine neue Ordnung. (https://de.wikipedia.org/wiki/Triangle_of_Sadness)

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