RESPONSE-ABILITY

Wir hören eine Minute, einen lauten, gellenden, wütenden Schrei. Jana Shostaks Halsadern spannen sich an wie die einer Ringkämpfer:in, einer Kugelstoßer:in. Kraft, Frust, Wut, Trauer bilden das Timbre dieses vokalen Ausbruchs. Ein angekündigter Vulkanausbruch mit der Bitte um Teilhabe. Manche folgen der Einladung und stimmen mit ihr ein, lachen nervös, blicken amüsiert im Garten um sich, stolpern danach mühelos und ohne Übergang zurück in ihre unterbrochenen Gespräche. Wir hören belgische, brasilianische, bulgarische, deutsche, iranische, irische, kolumbianische, libanesische, litauische, nepalesische, nigerianische, österreichische, philippinische, polnische, ruandische, schweizerische, slowenische, türkische, ungarische und ukrainische Stimmen, die fragen, weshalb sie hier eingeladen wurden, was ihr Platz bei diesem Festival sein kann, was ihre Teilnahme zu bedeuten hat. Wir hören „we don’t want to be consumed as artists in exile“, wir hören „can we even do a performance as Ukrainian artists when it’s not about the war?“, wir hören „who are we looking at?“, wir hören „to be appropriated is to be recognized“, wir hören „where is the moral judgement?”, wir hören “how to erase your culture”. Wir hören Fragen, brennende Fragen. Aber hören wir genau hin? Wer sind überhaupt „wir“, die sich hier versammeln und Fragen ausweichen, sie zu beantworten versuchen, sie ignorieren. Sie „uns” als Label auf das Programm drucken und dennoch die international ausgerichtete Paneldiskussion erst nach mehrmaligen Nachfragen aus dem Publikum auf Englisch abhalten. „Wir“, die still auf den Sesseln ausharren, während ein lauttickender Timer die von Igor Shugaleev eingenommene Folterhaltung untermalt, welche als Solidarisierungsakt mit den belarusischen politischen Gefangenen gilt. 

Dass sich das rahmende Diskursprogramm des diesjährigen Theatertreffens unter der scheinbar provokativ selbstreflexiven Frage „who has the privilege to not know“ präsentiert, lässt ein bisschen an cis-Männerrunden denken, die über Feminismus diskutieren. In einem gewissen Sinne ist das Theatertreffen ja ein alter weißer Mann, das ist jetzt nicht unbedingt ein Geheimnis. Zum 60. Geburtstag nun einen scheinbar derart plötzlichen Sinneswandel öffentlich wirksam zu machen, ist selbstverständlich für Family & Friends erst mal eine Überraschung. Manche mögen sich eventuell gar Sorgen machen: Sind diese politischen Bestrebungen etwa drogeninduzierte Awakeningfolgen nach einem Yoga-Retreat, Opi? Wo treibst du dich in letzter Zeit nur wieder herum? 

Aber nein, das resultiert keiner unschuldig aufblühenden Ayahuasca-Awareness, das Theatertreffen will offensichtlich an seinem Image arbeiten. Und sollte dies auch, wenn es noch relevant sein möchte. Die Frage, für wen hier eigentlich gespielt wird, schien lange Zeit sekundär, als sich noch mit fröhlicher Ignoranz eine gewisse geschlossene Gesellschaft selbst beweihräuchert hat. Jedoch reicht es bei Weitem nicht, sich rhetorische Fragen zu stellen: Carolin Hochleichter, Joanna Nuckowska, Olena Apchel sowie Matthias Pees stehen als vierköpfige Ansprechpartner:innen zum Paradigmen- und Konturenwechsel des Festivals und Hauses bereit. Zwar zunehmend müde der immergleichen Forderungen, dass und wie endlich gegen die uralte Mühle der Institution anzukämpfen sei, und dennoch mit zuversichtlicher Miene auf die Zukunft verweisend. Und auch zu Recht: Sich den oben an- und ausgeführten Fragen anzunehmen, ist keine leichte Aufgabe. Sich damit zusätzlich entgegen der deutschsprachigen Theaterlobby im Diskurs zu situieren, ebenso wenig. Dass diese vier dennoch den Versuch wagen, Raum für Austausch schaffen, diese Fragen ernst nehmen und eine verstärkte Sichtbarkeit marginalisierter Positionen vorantreiben, ist in Bezug auf eine historische Kontextualisierung dieser Veranstaltung bereits beachtenswert. Dabei sind die vorher genannten gar nicht die ersten, die sich für strukturellen Wandel innerhalb der Institution bemühen. Man erinnere sich nur an Yvonne Büdenhölzer, bspw. ihre Einführung der Frauenquote. Erst im Jahre 2019, was verhältnismäßig sehr spät war (was nichts der Bedeutsamkeit dieses Aktes absprechen, sondern diese vielmehr noch untermalen möchte), waren die damaligen Reaktionen leider immer noch eher semi-reaktionär. Das Ankommen der Institution im Jetzt schreitet bemerkenswert langsam voran. So wie man „Ophelia’s Got Talent“ zwar ob ihrer empowernden Kraft zu feiern hat und diese dabei dennoch in ihrer tatsächlichen Tragweite keine umfassende Repräsentation wiedergibt: protzende cis Weiblichkeit, ja, aber weiterhin exkludierend, wenn es um die Diversität von FLINTA* geht. 

Der Anspruch kann auch gar nicht sein, auf diese wichtigen Fragen direkt Antworten parat zu haben. Das würde der Dringlichkeit, Komplexität und Weitläufigkeit des Ursprungs dieser Fragen gar nicht gerecht werden. Stattdessen tatsächlich hinhören, den Diskurs davon ausgehend konstituieren, eventuell gar nicht als antwortende Instanz und Entität herhalten, sondern sich vielmehr mal aus der sprechenden Position zurücknehmen; und damit den bisher viel zu lange „ungehörten“ Stimmen Raum geben, deren Worte für sich stehen lassen, sie anerkennen: Das ist die Aufgabe, die nicht nur das Trio zu leisten hat.

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