Theater reformieren oder Theater konservieren?

Das Haus der Berliner Festspiele, in dem heute das renommierteste deutsche Theaterfestival, das Theatertreffen, stattfindet, ist ein typisches Gebäude der Moderne in einem der teuersten Bezirke Berlins, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Universität der Künste, zu Apartmentlofts, teuren Restaurants und Designerläden. Ursprünglich sollte es als „Theater der Freien Volksbühne“ dienen. Das von Fritz Bornemann entworfene Gebäude war die Verwirklichung einer „demokratischen Architektur“, offen für Menschen, Natur und Themen mit direktem Bezug zur Gesellschaft. Auf der Website des 1963 eröffneten Hauses ist zu lesen, dass der erste Intendant der sozialistische Regisseur Erwin Piscator war. Er und seine Nachfolger Kurt Hübner und Hans Neuenfels machten das Haus in der Schaperstraße zu einem wichtigen Ort des politischen Theaters in Berlin.

Das Betreten des Hauses der Berliner Festspiele, das insgesamt nur wenige Wochen im Jahr öffentlich zugänglich ist, gleicht heute eher dem Einchecken auf einem Flughafen als dem Besuch einer öffentlichen Kultureinrichtung. Ohne Eintrittskarte oder Festspielausweis überschreitet niemand die Schwelle des denkmalgeschützten Gebäudes. Die modernistische Architektur ist für ältere Menschen, Rollstuhlfahrer_innen und Kinder nicht wirklich geeignet. Der Zugang zum Festival erfordert beträchtliche finanzielle Mittel – die Eintrittskarten für die Veranstaltungen sind teuer, und während des Theatertreffens können die Preise bis auf das Fünffache des ursprünglichen Preises steigen. Hinzu kommt der richtige Stil des Seins, des Auftretens, also ein privilegierter sozialer Habitus. Manchmal wirkt die Institution wie eine Festung, die eine deutschsprachige, weiße, bürgerliche Identität bewacht und nicht wie ein Ort, der vielfältige Handlungs- und Reflexionsmöglichkeiten bietet, an denen es im multikulturellen Berlin schließlich nicht mangelt.

Für Zuschauer_innen, die kein Deutsch sprechen, ist das Theatertreffen ein Pech. Die zehn bemerkenswerten Inszenierungen, die von der siebenköpfigen Jury ausgewählt wurden, sind zwar mit englischen Untertiteln versehen, diese sind aber so platziert, dass sie nur schwer zu lesen sind. Etwas besser sieht es bei den Diskussionen aus, auch wenn diese meist auf Deutsch mit Simultanübersetzung ins Englische geführt werden. Keine der Veranstaltungen des Haupt- und Begleitprogramms wurde bisher in Gebärdensprache übersetzt. 

Ich schreibe das alles nicht ohne Grund, sondern um eine Vorstellung davon zu geben, welche Ausschlüsse die Institution reproduziert und wie sie durch diese fehlende Barrierefreiheit wahrgenommen werden kann. Veranstaltungen, die in einer unzugänglichen Institution stattfinden, werden zwangsläufig selbst exklusiv.

Das Theatertreffen selbst findet im 60. Jahr im Haus der Festspiele Berlin statt. Im Jubiläumsjahr 2023 hat Matthias Pees die Intendanz übernommen und ein neues internationales Leitungsteam für das renommierte Festival berufen: Olena Apchel, Carolin Hochleichter und Joanna Nuckowska. Die Leiterinnen, die aus drei unterschiedlichen kulturellen Kontexten kommen, haben sich zum Ziel gesetzt, die Institution zu entflechten und das Profil des Theatertreffens, das bisher als Branchenveranstaltung wahrgenommen wurde, zu einem Ort der Begegnung und des Austauschs zu machen. Die von den Leiterinnen entwickelten Diskussionen und Veranstaltungen beziehen sich nicht nur auf westliche Diskurse, sondern nehmen auch die Situation in Osteuropa, vor allem in Belarus und in der Ukraine in den Blick. Das Rahmenprogramm gliedert sich in 10 Treffen, die sich auf den zweiten Teil des Festivaltitels beziehen. Jeder der begleitenden Programmpunkte trägt einen Untertitel: Solidarity, Responisbility, Transfeminism, Herstory etc. Die Frage, die sich durch das gesamte Festival zieht, lautet: Who has the privilege to not know? Die vielfältigen künstlerischen Interventionen, Diskussionen und sogar ganze Theaterproduktionen, die im Rahmenprogramm geplant sind, werden jedoch von den meisten Kulturkritiker_innen des Landes von vornherein als störend oder gar bedrohlich für das Festival in seiner etablierten Form empfunden. So wurde die „1 Minute Scream“ Performance der Künstlerin Jana Shostak, die auf das Schicksal politischer Gefangener in Belarus aufmerksam macht, als unangemessener Eingriff in die Entspannung des vom siebenstündigen Eröffnungsmarathon („Das Vermächtnis„) erschöpften Publikums kritisiert, das in Ruhe ein Glas Sekt schlürfen wollte. 

Das Programm zur Ukraine, das in der Tat seine Höhen („Linie 8 und Pudding für alle!„) und Tiefen („Putinprozess„) hat und zu dem Kulturschaffende eingeladen wurden, die durch den Krieg weitgehend ihrer Arbeitsmöglichkeiten beraubt wurden, wird von Kritiker_innen als politische Agitation bezeichnet und nicht z.B. als Geste der Solidarität und Verantwortung für die Folgen eines Krieges, der nur wenige Zugstunden von Berlin entfernt ist. Nun mag man einwenden, dass ein Theaterfestival kein Ort ist, an dem politische und soziale Fragen diskutiert werden sollten, sondern ein Ort, an dem man sich mit Kunst auseinandersetzt. Doch was ist diese Kunst und wer kann sich heute noch reine ästhetische Kontemplation leisten? Welche Rolle spielt Kultur in einer Gesellschaft, die sich nicht auf die ästhetische Unterhaltung der oberen Mittelschicht reduzieren lassen will?

Der erste Intendant Erwin Piscator, Bertold Brechts Verbündeter bei der Reform des deutschen Theaters, hätte die Festspiele wohl kaum in der Form belassen, in der sie vor mehr als einem halben Jahrhundert erfunden wurden. Episches und politisches Theater, das sich gegen Klassenausgrenzung wendet und in das Weltgeschehen eingreift, hat auch in Deutschland eine lange Tradition. Wäre es nicht sinnvoll, daran anzuknüpfen, statt elitäre Ausgrenzungen zu reproduzieren?

Ich bin der Meinung, dass keine westeuropäische Institution und kein Festival eine postkoloniale, antikapitalistische oder feministische Kritik mehr ignorieren kann. Die Institution muss ihre Rolle als Hüterin der Kultur aufgeben und anfangen, den Stimmen der Ausgeschlossenen zuzuhören, um Verbündete oder sogar Initiatorin sozialer Veränderungen zu werden, anstatt die Logik einer Belagerungsfestung anzunehmen. Tut sie dies nicht, wird sie sich bald in ein Mausoleum verwandeln.

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