Prima Facie, Regie: Barbara Weber, Schauspielhaus Zürich, 2024:
Eine Schauspielerin fläzt im zerwühlten Bett, zückt ihr Handy, betrachtet sich gelangweilt durch die Selfiekamera. Das Publikum, welches gleichzeitig Platz nimmt, ist erst zurückhaltend, skeptisch, dann immer interessierter. Eine Stunde später spricht sie, die toughe Anwältin, darüber, wie sie selbst vergewaltigt wurde. Sie beschreibt die Vergewaltigung, die Einschnitte in ihr Leben, die Scham und den darauffolgenden Gerichtsprozess. Dabei schaut sie wieder direkt in die Handykamera. Ihr Blick ist bestimmt, wütend, verstört, verletzt. Und vor allem: riesig auf die Leinwand hinter ihr projiziert. Das Gericht hat zugunsten des Täters entschieden.
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frau heilt (party), Regie: Marie Bues, Theater Winkelwiese Zürich, 2024:
Drei Schauspielerinnen stehen direkt vor dem Publikum, sprechen ihren Text aber ins Handy. Sie sprechen davon, wie sie als Frauen mit ihren Schmerzen nicht ernstgenommen werden. Sie erzählen von den Folgen jahrhundertelanger Forschung, die ausschließlich den männlichen Körpern gegolten hatte. Wie sie mit Unverständnis und Herabwürdigung konfrontiert sind und wie der Schmerz bestehen bleibt. In den Körpern, in der Gesellschaft, im System. Der Livestream legt sich wie ein Film über die Frauen, von denen nur noch Umrisse erkennbar sind. Sie filmen sich, wie sie die Bühne verlassen und in den Garten rennen. Immer und immer wieder legt sich eine neue Schicht über das Video, was sich stetig zu einem schwindelerregenden Fiebertraum wandelt.
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spinne, Regie: Maja Zade, Schaubühne Berlin, 2024:
Eine Schauspielerin spricht wütend ihren Monolog in die Selfiekamera. Ihr verzerrtes Gesicht ist riesig auf der Wand hinter ihr sichtbar. Sie rekapituliert einen Abend, der aus den Fugen geraten ist. Beim Abendessen mit einem alten Freund, der seine politische Meinung stark geändert hat, verfällt sie in eine Starre. Wir sehen in ihr Wohnzimmer, sehen ihr Gesicht, als wären wir mit ihr in einem Videoanruf. Erst da taut die Taubheit auf, und sie findet endlich ihre Worte wieder. Als Zeug*innen des emotionalen Ausbruchs sind wir zu weit entfernt.
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Scham, Unbehagen und Unsicherheit sind in den Szenen der Elefant im Raum. Die Live-Projektionen treten auf, nachdem die Protagonist*innen von den emotional aufgeladenen Themen erdrückt wurden und in einen Freeze-Zustand geraten sind. Mit der Bespielung des Bühnenbilds findet eine Verschiebung statt. Statt den Tatsachen — und somit den Schauspieler*innen, die davon erzählen — ins Auge zu sehen, ist der Blick über die Leinwand nur indirekt. Wer wird dabei vor Scham geschützt? Die Schauspieler*innen oder das Publikum?
Durch den Perspektivenwechsel werden die Gesichter, Mimik, je nach Kameraführung sogar die Bühne oder der Backstagebereich sichtbar. Dem Publikum wird eine physische Nähe vorgetäuscht. Die intimen Blickwinkel auf der Leinwand erinnern an Livestreams aus Social Media, Reels, Storys oder Videotelefonate. Wie durch eine parasoziale Beziehung fühlen wir uns den Schauspieler*innen verbunden. Das Smartphone wirkt deplatziert, aber genau damit wird die Hierarchie zwischen Publikum und Bühne aufgebrochen.
Gemeinsam auf eine Person am Handy starren
Ganz leise legt sich ein Schleier kollektiver Traurigkeit über den Theaterraum, wenn aus vollen Reihen gemeinsam auf eine einzelne Person am Handy gestarrt wird — oder auf deren Projektion. Vielleicht erkennen wir uns selbst. Durch Nahbarkeit wird das Publikum betroffener, und gerade deswegen werden den Themen in diesem Moment eine größere Dringlichkeit zugeschrieben. Und hier passiert das Spannende, die Gratwanderung: Einerseits werden die Schauspieler*innen nahbarer, andererseits abstrahiert.
Was bedeutet es für das Theater, wenn Schauspieler*innen auf der Bühne performen und wir parallel die Liveübertragung davon auf der Leinwand verfolgen? Theater spielt mit einer Social Media-Ästhetik, welche auf die Größe einer Kinoleinwand projiziert wird: Gemeinsam zanken sie darum, wer die Oberhand über die Aufmerksamkeit des Publikums gewinnt. Genauso wie ich, die zwar aktiv auf die Person fokussieren möchte, aber immer wieder zum Video abschweife.
Theater braucht Unmittelbarkeit
Woher haben wir als Publikum die Gewissheit, dass uns gerade eine Liveaufnahme präsentiert wird? Das Theater zeichnet sich durch Unmittelbarkeit und die Kopräsenz von Zuschauer*innen und Schauspieler*innen aus. Wenn vorgefertigte Videoaufnahmen abgespielt werden, ist diese Unmittelbarkeit dahin. Und wir sitzen stattdessen im Kino oder daheim auf der Couch. Nehmen wir die Themen anders wahr, je nachdem, ob wir direkt spielenden Menschen zuschauen oder einem Video? Und warum brauchen wir dieses Stilelement, um mit dem Schreckens-Trio von Scham, Unsicherheit und Unbehagen umgehen zu können?
Die Live-Kamera kann Selbstermächtigung darstellen, weil durch die unfertige, etwas verwackelte Ästhetik Menschlichkeit und wichtige, oft unterdrückte Perspektiven aufgezeigt werden. Livestreams mittels Handykamera provozieren und können hellhörig machen: Plötzlich wird der Gegenstand auf der Bühne verwendet, der ausnahmsweise stumm in jeglichen Handtaschen und Hosen verstaut ist. Es wirkt befremdlich, dass ausgerechnet das Handy mitsamt seiner Kamera zum Schutzschild vor den neugierigen Blicken aus dem Publikum wird.
Live-Videos ermöglichen ungehemmteres Zuschauen
Es kann ausgesprochen werden, was vorgeführt oder vorgespielt zu krass wäre. Wie beim Beispiel „Prima Facie“: Die Vergewaltigung muss unbedingt verhandelt, die Gewalt soll aber keinesfalls reproduziert werden. Viel wichtiger sind die Perspektiven und Geschichten von den Betroffenen und Unterdrückten. Durch das Spiel und die technischen Mittel werden die Themen offensichtlich künstlich inszeniert und dadurch zugänglicher. Wir können ungehemmter zuschauen, weil wir den Schauspieler*innen nicht direkt in die Augen schauen müssen. Trotz dieser Möglichkeiten sehe ich auch ein Problem darin: Obwohl die riesigen Missstände aufgedeckt werden, bleibt die Scham bestehen.
Solche Live-Videos haben eine Doppelfunktion. Sie sind distanzverringernd und distanzaufbauend zugleich. Es besteht die Gefahr, dass durch zu viel Entfremdung die Themen nicht wirklich ernst genommen werden können – weil sie zu abstrakt oder zu weit weg erscheinen. Wichtig erscheint mir die Frage, wie wir selbst mit unserer Scham umgehen. Ob wir sie weiter reproduzieren und mit unseren Blicken und unserer Aufmerksamkeit ausweichen, oder ob wir genau hinsehen und gemeinsam darüber sprechen, was wir sehen und fühlen. Es bleibt spannend, wie die ausgewählten Inszenierungen des Theatertreffens mit diesen Fragen umgehen.