Wem gehört das Theater?

Ein Appell für Theater für alle Menschen und Menschlichkeit in allen Theatern

Leon trägt keine Schuhe, keine Socken. Er tanzt. Die Musik fließt um die Kostüme, durch Kartons und Postkarten. Wir machen Pause, und alle sitzen gemeinsam auf der Notausgangstreppe. Die Sonne wärmt uns. So lange her, dass es warm war und jetzt Sonne, für unsere kalten Gesichter. Wir sprechen in der Produktion über die Unterschiedlichkeit von Farben. Und wie verschieden wir sie sehen. Violett bedeutet: jemand geht vor, ich muss keine Angst haben, wir machen das gemeinsam.

Fühlt sich gut an, dass wir das hier zusammen herausfinden, das mit den Farben und wie das mit uns als Gruppe und den Schauspieler*innen auf unserer kleinen aufgeklebten Spielfläche funktioniert. Ich würde Leon gerne zwischen den Proben ins Theater einladen, aber trau mich nicht, weil das Theater nicht für Leon gemacht ist, sondern für Leute wie mich. Am besten in Abendgarderobe, ohne Menstruationsbeschwerden und Magengrummeln. Trotzdem bin ich immer im Theater und Leon ist es nicht: das ist das Problem.

Vermeidbare Barrieren an vielen Kulturorten

Als Regieassistenz bei der Produktion „Der gelbe Klang“ an der Freien Bühne München, in der Menschen mit und ohne Behinderung spielen, habe ich gemerkt, wie banal und vermeidbar viele Barrieren an unseren Kulturorten sind. Manche Besprechungs- oder Probenräume sind nur über Treppen erreichbar, Durchsagen kommen nur über Lautsprecher, und teilweise ist die Musik so laut, dass es für einige Menschen einfach unaushaltbar wird, eine Vorstellung zu besuchen.

Bei „Der gelbe Klang“ habe ich auch Leon kennen gelernt und gemerkt, wie unterschiedlich unsere Welten sind, auch wenn beide ins Theater gehören. Wir unterscheiden uns eigentlich nicht wirklich, sind fast gleich alt und mögen beide Theater und Texte. Aber manche Dinge sind mir leichter möglich als ihm. So kann ich ohne nachzudenken U-Bahn fahren, habe keine Probleme mit blendenden Scheinwerfern und komme ganz entspannt auf die Sitze in der Mitte des Theaters, auch wenn ich mich an einigen Menschen vorbeiquetschen muss.

Teurer Prosecco und Club Mate an der Bar

Natürlich sind nicht alle Dinge sofort veränderbar, aber manches ist auch einfach nicht verhandelbar: zum Beispiel Gleichberechtigung. Ich zahle als Studentin für meine Karten wesentlich weniger als die älteren Menschen, die das Theater für sich beanspruchen. Das ist ein Angebot des Hauses, weil die Menschen vom Theater wollen, dass meine Freund*innen und ich her kommen und danach noch in die Theaterkantine gehen und das alles Teil unseres Alltags sein kann. Das Angebot ist ein Vorschuss und ein Paar offene Arme, und wir versprechen leise zurück, dass wir das Theater in unserem Innern behüten.

Trotzdem habe ich das Gefühl, dass manche Menschen denken, dass dieser Ort mehr ihnen gehört als anderen. Und das sind auch Menschen in meinem Alter und Menschen in meinem Umfeld. Manche wollen das Theater ganz für sich, wollen ihre kleine exklusive Welt mit Stuck und vergoldeten Handläufen, oder dass alle anderen gehen, die nicht ganz genau ihrer politischen Meinung sind. Lass uns doch lieber gemeinsam hier sein und es geil finden, dass es an der Bar teuren Prosecco und Club Mate gibt.

Diskussionen über Sondervorstellungen am Theater Würzburg

Wenn das Haus alle Menschen einlädt und will, dass so viele wie möglich gerne ins Theater gehen, warum ist es dann immer noch so schwer, allen Menschen einen Zugang zu verschaffen? Als Maßnahme gibt es Angebote wie „relaxed performances“. Dort können Menschen beispielsweise zwischendrin raus gehen, haben mehr Platz und müssen nicht ständig still sein. Weil das normale Theater nicht für alle funktioniert.

Am Theater Würzburg kam es am Ende des letzten Jahres zu Diskussionen über getrennte Vorstellungen. Der ehemalige Intendant Markus Trabusch bezeichnete die Zwischenrufe einer Person in einer Vorstellung von „Ente, Tod und Tulpe“ als „massive Störung“. Daraufhin gab es viele Stimmen, welche für und gegen sogenannte „Sondervorstellungen“ argumentierten. Viele Gewerkschaften, wie die Bühnengenossenschaft halten davon nichts. Sie sagen „relaxed performances“ sind keine Inklusion, sondern Ausgrenzung. Ein Rückschritt. Die Bühnengenossenschaft fordert Zugänglichkeit zu regulären Vorstellungen statt Abgrenzung.

Gebärdensprache ist politisch

Ich finde dieses Angebot für bestimmte Abende passend, allerdings nur, wenn es nicht dazu führt, dass andere Vorstellungen plötzlich von jeglichem Anspruch auf Zugänglichkeit befreit sind. Denn nur weil eine Vorstellung mit Audiodeskription arbeitet, darf nicht die andere dafür ohne Übertitel laufen oder keine Plätze für Rollstuhlnutzer*innen anbieten. Gebärdensprache im Theater ist keine ästhetische Spielerei – sie ist politisch. Einzelne zugängliche Abende machen reguläre Vorstellungen nicht inklusiver.

Ich will keine separaten Aufführungen für Menschen mit Behinderung, ich will keine separaten Vorstellungen für besser zahlendes Publikum. Ich will Theater für alle Menschen und Menschlichkeit in allen Theatern. Warum steht nicht einfach auf der Website des Theaters, dass niemand ein Abendkleid braucht? Dass man einfach kommen darf, mit Kopfhörern für abgedämpften Sound, mit Rucksack, mit Magengrummeln. Dass Theater kein Hochglanzort sein muss.

Alle verschmelzen zu einem Publikum

Bei der Preisverleihung unserer Regisseurin lacht Leon. Er stellt Fragen zwischendrin und antwortet auf die, die von einer Schauspielerin gestellt werden. Sie geht darauf ein. Er ist genauso Gast wie jede andere Person hier. Wir verschmelzen alle zu einem gemeinsamen Publikum.

Ich, als junge Frau, tanze trotzdem gerne auf einem Konzert, wenn die Band sagt, dass jetzt mal alle außer die Männer nach vorne kommen sollen und ich fühle mich frei. Freier als sonst, in diesem abgetrennten, exklusiven Umfeld, das für mich geschaffen wurde. Mein Problem ist, dass ich mich ja ohne diesen Raum auch schon frei gefühlt haben müsste. Nur weil es einmal okay ist, dass jemand was zwischendrin sagt und ein einzelner Raum für viele Menschen zu erreichen ist, ist das Theater an sich noch nicht inklusiv.

Verzweifelt junge Leute vom Skatepark holen

Natürlich schafft Exklusivität Gruppenzugehörigkeit und wer dazugehört, fühlt sich besonders. Aber wenn immer weniger Menschen freiwillig kommen, holen die Theater verzweifelt junge Leute vom Skatepark und übersetzen plötzlich Info-Material zu viel zu komplizierten Abenden in leichte Sprache. Das kann doch nicht die Lösung sein.

Das ist keine Anklage, nur der Vorschlag, sich mal umzugucken und zu sehen, wer da mit einem ist und wer nicht und warum. Warum Hospitanzen nicht von Menschen gemacht werden können, die darauf angewiesen sind, Geld zu verdienen, oder schlicht und einfach häufiger Pausen brauchen. Und vielleicht sollte ich auch einfach mit Leon und Magengrummeln ins Theater gehen, und das wäre irgendwie okay. Ich möchte einfach auf keinen Fall Theater als Kunst für die Kunst verstehen, sondern als lebendige Kunstform mit und für Menschen.

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Luise Helene Otto

Luise Helene Otto (sie/ihr), geboren 2003, studiert Theaterwissenschaft sowie Sprache, Literatur und Kultur an der LMU in München. Parallel arbeitet sie für den Studierendenradiosender M94,5. Dort leitete sie ein wöchentliches Kulturmagazin. Erste Erfahrungen mit Theater machte sie bei TheaterTotal in Bochum. Seit 2022 ist sie Teil des MK:ollektivs an den Münchner Kammerspielen und des Open House Kollektivs des PATHOS Theater München, bei denen sie schreibend und konzeptierend an Theaterabenden mitarbeitet. Während einer Regieassistenz an der Freien Bühne München vertiefte sie ihr Interesse für inklusives Theater. Für die Theaterfestivals Spielart und Radikal Jung schrieb sie Theaterkritiken und zuletzt war sie Teil der Voyager Werkstatt für Kulturjournalismus.

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