Unbehaglich angeatmet von der weißen Bourgeoisie

Warum ich mich unwohl im Theater fühle, obwohl ich meist glücklich hinaustaumele

ein saal gleich eines mundes in der die zunge das rrrr rollt eine stage performt
anschwillt töne hinaus trägt sich den geschmack auf dem mund zergehen lässt
die sitzreihen eine aneinanderreihung an köpfen gleich zähne die aus zahnfleisch herausstehen
reihe um reihe wie ein haifischzahngebiss (ich bin mir nicht sicher ob haie zungen haben aber ich verkneife mir das googeln)
was kaut der hai heute? was hat er zu verdauen?

An meinem 26. Geburtstag saß ich völlig heartbroken im Theater und habe drei Stunden durch geweint, nämlich genauso lang, wie das Theaterstück auch ging. Die Personen, die mich an diesem Tag ins Theater begleitet haben – es waren ein Dutzend – saßen hilflos und Blicke austauschend neben mir. Hilflos erstens dabei, meinen schier endlos dahinsiechenden Tränenstrom zu stoppen und zweitens dieses wohl unerträglich langweiligste Peter-Handke-Stück seit anno dazumal auszuhalten. Ich bin an diesem Tag aus dem Theater raus gestolpert und habe gedacht, das hätte ich mir und meinen solidarischen Freund*innen wirklich ersparen können. Dieser Besuch war der einzige Theaterbesuch in meinem Leben, dem ich wirklich GAR NICHTS, wirklich gar nichts abgewinnen konnte.

Wie vermutlich im Rahmen dieses Blogs nicht anders zu erwarten, gehe ich extrem gerne ins Theater. Ich gehe gerne ins Theater, weil ich zu 80 Prozent der Fälle glücklich und vollkommen gedanklich überstimuliert hinaus taumele. Ich verbinde ein sehr positives Gefühl mit Theaterbesuchen, und häufig gehe ich ins Theater auch, wenn ich mal wieder das Gefühl brauche, das Leben wäre keine Aneinanderreihung von unglücklichen Umständen.

Druck, sich ordnungsgemäß zu verhalten

Trotzdem, fühle ich ein unspezifisches Unbehagen in mir hochkriechen, jedes Mal, wenn ich mich einem institutionellen Theater nähere. Es ist eine Art Druck, den ich spüre, den Druck, mich nun ordnungsgemäß des Publikums eines staatlichen Theaters zu verhalten. Ich muss hier nicht tun, als würde ich Begriffe wie Klassismus oder Bildungskapital neu erfinden, oder als müsste ich wie bei DSDS erst mal meine eigene persönliche Leidensgeschichte emotional wiederkäuen, bevor ich die Stage betrete. Ich muss nicht tun, als hätte ich sehr stark ausgeprägte Zugangsbarrieren zu öffentlichen Theatern. Aber es gibt dieses Unbehagen und es beginnt 20 min vor Stückbeginn und endet wenn ich die U-Bahn nach Hause betrete. Es sind die Phasen, in denen ich von einem Theaterpublikum umgeben bin, aber noch als Mensch sichtbar existiere, noch nicht von einer Aufführung aufgesogen werde.

ich sehe das gerade sitzende grauhaarige heteropärchen über 70, das sich wohl morgens das kulturradio aufs gemischte graubrot schmiert (oder was isst man sonst so in charlottenburg zum frühstück?)
ich sehe die schnatternden studis in wollpullis und den kurzen ponys auf die stirn geklatscht unordentliche dutts auf dem kopf beine übereinandergestapelt andere geisteswissenschaftsstudifriends um sich
eine traube der ‚ciritical whiteness‘ AG und irgendwas mit kord
was sehe ich noch? was sehe ich nicht?

Sie alle sind Individuen mit eigenen Lebenslinien auf den Händen, aber in diesem Moment werden sie für mich zu einem verbannt, um für eine Pauschalisierung herzuhalten aus Gründen meines unsicheren Unbehagens. Ich weiß gar nicht, ob mich etwas äußerlich überhaupt ansatzweise von ihnen unterscheidet. Ich bin zwar nicht weiß, aber zumindest habe ich schon zwei Hochschulabschlüsse in der Tasche.

Angst, etwas Dummes zu sagen

Ich weiß nicht, ob auch sie sich genauso wie ich fühlen, als würden sie eine Rolle spielen, jedes Mal, wenn sie in einem Theatersaal sitzen. Als würde etwas ihre Identität anknabbern, als müssten sie ihre Anwesenheit mit Anwesenheit verteidigen. Als wären sie ein deplatziertes Wohnaccessoire.

Immer wenn ich im Theater war, fühle ich mich erst wohl damit, über das geschaute Stück zu sprechen, wenn ich mir sicher bin, dass keine Person aus dem Publikum – außer meine Begleitungen – mehr zuhören kann. Weil ich Angst habe, etwas Dummes zu sagen (und jetzt schreibe ich für den Blog des Theatertreffens, was für eine Selbstsabotage…).

und der haifisch der hat zähne
und die trägt er im gesicht
gleich eines zuckens im mundwinkel einer art geradlinig das gesicht in die sonne zu halten
während auf die begleitung gewartet wird die einen leichten mantel trägt und ein krokodil auf dem kopf und dann lachen wir stehen auf jubeln aber nur wenn es alle anderen auch machen sonst sitzen wir und klatschen drei runden die sich gehören dann stehen wir auf strecken uns (morgen pilates) das ist die emanzipative widerständigkeit sie kriecht die beine hoch das ist das potential sieh hör riech es gleich 24 prozent laut der prognosen wir klatschen weiter auch wenn es schwerer wird nehmen kinder auf der bühne nehmen eine schreiende intendanz ab und zu ein bisschen machtmissbrauch nehmen das was einem publikum wohl zu steht

Ich fühle mich gleichzeitig angezogen und abgestoßen von dieser geballten Menge an Bildungsbürgertum, wie sie mir im Café der Schaubühne begegnet. Ich wollte immer sein wie sie und ein Teil von mir will es noch immer. Das alles ist so brav. Sicher werfe ich viel über einen Kamm in dieser Verallgemeinerung eines Publikums, in dieser Blase namens Berlin. Natürlich bringt das Gorki ein anderes Publikum mit sich als das Deutsche Theater etc.

Was löst das Unbehagen aus?

Es bleibt für mich aber interessant, die Feststellung, was bei mir persönlich das Unbehagen auslöst. Es sind eben nicht die Inhalte. Ich fühle mich sehr selten dem Intellekt oder der theatralen und formalen Inszenierung eines Stückes nicht gewappnet. Wenn es mir so geht, geht es vielleicht auch noch ein paar anderen Menschen so.
Sicherlich gibt es Personen, die eher nicht ins Theater gehen, weil sie die Texte und Themen als realitätsfern empfinden, kryptisch oder langweilig. Abgesehen davon, dass man sich das Zeug natürlich leisten können muss…
Aber das muss es auch nicht sein. Es kann auch sein, dass man sich unwohl im Theater fühlt unabhängig von eben all dem, was auf der Bühne passiert, einfach unbehaglich angeatmet von dem uralten Mundgeruch eines bourgeoisen weißen Habitus. Einfach nicht zugehörig. Da kann man noch so sehr repräsentiert werden auf der Bühne, wenn es das Publikum doch nicht tut. Was macht das mit der kollektiven Erfahrung eines Theaterbesuchs?

Soziale Herkunft lässt sich nicht an- und abstreifen

Ich frage mich, wie häufig Menschen auch in anderen Kontexten aus diesem Grund eine bestimmte Art von Kultur nicht rezipieren, die ihnen vielleicht eigentlich gefallen würde, sich aber dem Publikum zu wenig zugehörig fühlen. Wie häufig Menschen künstlerische Arbeiten toll finden würden, aber sich in Ausstellungen in irgendwelchen kahlen Galerien mit hippen Menschen wie mir und dazu ein paar reichen Dösels als Besuchende nicht wohlfühlen. Natürlich gibt es Subkulturen mit bestimmten kulturellen Codes, die ihre eigenen sind, die ich nicht verstehe, aber eine soziale Herkunft ist eben genau wie Race keine Subkultur, die sich an- und abstreifen lässt.

Oder auch anders: Welche Rolle spielt die Reaktion der Rezipierenden für den einzelnen, die einzelne Rezipient*in?
Sagen wir: ich verstehe diese Arbeit nicht. Ich versuche krampfig sie zu verstehen, sie verschließt sich mir. Es könnte an manchen Stellen einfacher sein, sich der Arbeit emotional offen hinzugeben, das heißt zu sehen und zu akzeptieren, dass es vielleicht nicht immer darum gehen muss, jeden Satz des Stückes einordnen zu können, jedes Narrativ zu überblicken oder mit dem und dem Stück der und der Intendanz zu vergleichen. Wenn da kein Publikum wäre, dessen Reaktion man sich vergleichsweise anpassen möchte, könnte es wie bei den meisten künstlerischen Arbeiten letztendlich die eigene Leseweise sein, die doch das entscheidende Mittel der Kunst und seines emanzipativen Potentials ist?

Kunst machen, die über das Leben geht

Ich musste, während ich diesen Text geschrieben habe, häufig an einen Talk mit der bildenden Künstlerin Cemile Sahin denken, den ich vor kurzem im Hamburger Bahnhof gesehen hatte. Sie sagte, frei nach meiner Erinnerung, sie möchte Kunst machen, die über das Leben geht. Und sie würde so ihre Arbeiten zuerst Menschen zeigen, die nichts mit Kunst zu tun hätten, die aber was vom Leben verstehen würden. Ich fand das so gut. Letztlich sind es vielleicht nicht nur die Menschen, die wenig Zugang zu Theaterinhalten erhalten, sondern vor allem auch das Theater selber, das eine Bandbreite an Reaktionen und Perspektiven verliert.

Ich erinnere mich daran, wie mir ein Freund von einer Performance erzählt hat, der er und ein Freund, der sonst wenig Berührungspunkte mit zeitgenössischer Kunst hat, beigewohnt haben. Der Freund hätte die Performance sehr gefühlt, er hätte gelacht und gejubelt. Die anderen hätten sich zu ihm umgedreht, dachten, seine Reaktion wäre ironisch gemeint. Dabei hat es ihm einfach nur sehr gefallen. Ich sag ja nur.

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Momo Bera

Momo Bera (*1994) ist eine multimedial arbeitende Künstlerin und Lyrikerin aus Berlin. Sie studiert Bildende Kunst an der Universität der Künste Berlin in der Klasse Favre. Momo veröffentlicht vor allem in unabhängigen Literaturmagazinen und nahm an zahlreichen Ausstellungen und Lesungen teil. Sie ist zudem Teil des ad hoc Lyrikkollektivs, das momentan die Lesereihe textOUR veranstaltet. Momentan interessiert sie sich dafür, das Format der performativen Lesung für sich weiter zu erschließen und beschäftigt sich mit der Aufarbeitung von transnationaler Adoptionsgeschichte aus postkolonialer Perspektive. Momo versteht ihr Schreiben im Sinne von Hélène Cixous als emanzipatorischen Akt. Ihr Malereiprofessor nennt sie Gefühlsnudel, sie mag das.

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