Die Zeit wird zur Protagonistin

In „Kontakthof – Echoes of ’78“ begegnen Tänzer*innen in der Choreografie von Pina Bausch ihrem jüngeren Ich und erzählen dabei von Liebe und Verlust.

46 Jahre, fünf Monate und vier Tage nach der Uraufführung von Pina Bauschs Tanzstück „Kontakthof“ kommen neun Mitglieder der Originalbesetzung beim Berliner Theatertreffen auf der Bühne wieder zusammen. Nach der Uraufführung am 9. Dezember 1978 in Wuppertal ging „Kontakthof“ auf Welttournee, wurde über Jahrzehnte in sich beständig verjüngenden Besetzungen immer wieder aufgeführt, sodass es heute zu Bauschs bekanntesten Arbeiten zählt.

Meryl Tankard, eine der Tänzerinnen der Uraufführung, hat nun unter dem Titel „Kontakthof – Echoes of ’78“ für die Originalbesetzung eine neue Fassung des Stücks entwickelt. Tankard selbst ist mit 69 Jahren die jüngste der Tänzer*innen, Ed Kortlandt mit 79 der Älteste. Ursprünglich war es ein zwanzigköpfiges Ensemble, inzwischen sind manche bereits verstorben, andere können aus gesundheitlichen Gründen nicht an der Neuinterpretation teilnehmen.

Die Damen im Satinkleid, die Herren im Anzug

Das von Bauschs Lebensgefährten Rolf Borzik entworfene Bühnen- und Kostümbild ist das gleiche wie vor 46 Jahren. In einem großen, weißen Tanzsaal performen die Tänzer*innen eine strenge Geschlechterbinarität: die Damen in Satin-Kleid und Stöckelschuhen, die Herren in Anzug und Krawatte. Das Tanzparkett ist der Ort, an dem Geschlecht konstruiert wird, an dem sich Frauen und Männer begegnen, ihre Körper präsentieren, umeinander werben und miteinander ringen.

Die ersten Aufführungen von „Kontakthof“ wurden mit der Kamera von Rolf Borzik festgehalten, der schon 1980 verstarb. Meryl Tankard selbst hat das historische Videomaterial neu zusammengeschnitten und zeigt es in ihrer Fassung in großformatigen Schwarz-Weiß-Projektionen parallel zum Bühnengeschehen. Die Performer*innen auf der Bühne tanzen synchron mit ihren eigenen jüngeren Schatten. Erst durch ihr Auftreten in der Projektion werden die heute auf der Bühne abwesenden Kolleg*innen als schmerzvolle Leerstelle in der Choreografie erkennbar. Die Aufnahmen zeigen, was sich niemals wiederholen kann. Wenn die Tänzer*innen ihr projiziertes jüngeres Ich ansehen, entsteht neben der Faszination für das andere Geschlecht die Faszination für die Jugend. Die Zeit wird zur Protagonistin.

Nostalgisches Knistern der Schallplatten

Begleitet vom nostalgischen Knistern der Schallplatten tanzt das Ensemble zu alten Schlagern und Tango – manchmal mit beeindruckender Leichtigkeit, manchmal vor den Anforderungen der Choreografie kapitulierend. Über die Jahre hat sich die Bedeutung der Szenen weiterentwickelt: Während die elegante junge Josephine Ann Endicott in der Projektion vor Liebeskummer schluchzt, weint die fast noch elegantere leibhaftige Tänzerin über die – nun ewige – Unerreichbarkeit geliebter Menschen. Endicott ist diszipliniert divenhaft und leidenschaftlich zugleich.

Dank des ungebrochen lustvollen Einsatzes der Tänzer*innen rutscht der Abend trotz Tränen und der Thematisierung von Alter und Verlust niemals in Schwermut ab. Als anstatt der historischen Tanzaufnahmen ein „munteres Häuflein junger Stockenten“ aus einer verstaubten 70er-Jahre Tierdoku projiziert wird, wirkt das auf den ersten Blick unerwartet. Durch die Enten-Mama und ihre einen Tag alten Küken entsteht aber ein berührendes Bild für die Ewigkeit des Lebens und vor allem des Liebens.

Performer*innen erzählen von der Liebe

Nach einer ekstatischen Tanzszene auf der Leinwand sitzen die neun Performer*innen an der Bühnenrampe und erzählen dem Publikum bei erleuchtetem Saallicht von ihrem Leben und ihren Wünschen. Sie offenbaren auf charmante Weise ihre eigenen Liebesbeziehungen diesseits und jenseits der Heteronormativität des Tanzparketts. Als einer der Tänzer seine Ehe mit der Formulierung „she cooks and I eat“ zusammenfasst, wirkt selbst diese konservative Rollenverteilung in der eigenartigen schuldigen Unschuld des Alters herzerwärmend.

„Kontakthof – Echoes of ’78“ bejaht mit aufreizenden Hüftschwüngen das Leben. Zugleich kommt besonders dann, wenn sich die Tänzer*innen dort umarmen oder anlehnen wollen, wo in der Projektion Personen zu sehen sind, die auf der Bühne nicht mehr anwesend sind, eine große Einsamkeit und Trauer zum Ausdruck. Tankard schreibt im Programmheft: „Anstatt unsere lieben Freunde zu ersetzen, möchte ich, dass ihre Abwesenheit spürbar wird.“ Und das geht auf: in der Wiederbegegnung der gealterten Tänzer*innen mit der Choreografie und den Projektionen liegt eine Ambivalenz aus Lebenslust und Trauer über die Vergänglichkeit des Daseins. Mit wirkungsvoller Schlichtheit gelingt der wahrscheinlich berührendste Abend des Theatertreffens.

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Ole Zeitler

Ole Zeitler wurde 2002 im thüringischen Altenburg geboren. Im Alter von sechs Jahren zog ihn das glamouröse Glitzerkleid der Königin der Nacht in den anhaltenden Bann magischer Theaterwelten. Während seines Bachelors in Kulturwissenschaft und Deutscher Literatur in Berlin arbeitete er im Abenddienst der Staatsoper und wurde zum Opernnerd. Aktuell studiert er in Wien Kunst- und Kulturwissenschaften und schreibt (Musik-)Theaterkritiken für das junge Kulturmagazin Bohema. Er begeistert sich für Inszenierungen, die Genregrenzen überschreiten und die Widersprüche des Lebens spürbar machen.

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