Keep or delete?

Das Kollektiv DARUM bittet in seiner Virtual Reality-Installation „EOL“ zu entscheiden, welche digitalen Nachlässe für den Umzug in ein fiktives Metaverse bewahrt werden sollen. Ein berührender Abend über Untote und virtuelle Welten

​​Ein bisschen komme ich mir vor, als hätte ich eines der exklusiven Tickets für ein Spaceship ergattert, das von irgendeinem Oligarchen gesponsert die Reichen und Schönen nach Tag X von der Erde auf den Mars retten soll – so begehrt scheinen die wenigen Tickets der immersiven Performance “[EOL]. End of Life” des Kollektivs DARUM von Kai Krösche und Victoria Halper in Kooperation mit brut WIEN zu sein, das dieses Jahr als  erste Virtual Reality-Produktion zum Theatertreffen eingeladen wurde. Ich begebe mich in den Berliner Gropius Bau, wo die Performance auf 9,6 Quadratmetern untergebracht sein soll.

Willkommen im Metaverse. So stehe ich nach wenigen Minuten, in der mir Mitarbeitende in die VR-Brille und Kopfhörer helfen, in einem digitalen Fahrstuhl des fiktiven Tech-Unternehmens iRL und erhalte von der freundlichen KI Alis den Auftrag, die von Usern entwickelten, aber seit 10 Jahren nicht mehr besuchten ‘immersive reality landscapes’ einzeln zu begehen und zu entscheiden, welche dieser Welten in eine neue Version, der iRL 2.0 übernommen werden sollen. Und welche endgültig gelöscht gehören. 

Von User-Welt zu User-Welt

Die sanfte, aber bestimmte KI teilt mir mit, was iRL nicht behalten möchte. Nichts Hässliches, nichts mit Gewalt, sicher nichts FSK 18 und keine Welten, in denen Spuren von realen Personen – also Fotos, Videos, Briefe und so weiter – zurückgelassen wurden. So führt mich der Fahrstuhl von User-Welt zu User-Welt, Raum zu Raum, die KI fragt mich nach jeder besuchten Welt, ob es diese wert ist, weiter zu existieren. Roter Knopf: Delete. Grüner Knopf: Keep. Mehrmals werde ich nach meiner Entscheidung darauf hingewiesen, dass meine Entscheidung nicht den Richtlinien der iRL entspricht. Sie sagt: „Ich sehe, du hast einen Hang, auch im Hässlichen das Schöne zu sehen, aber halte dich an deinen Auftrag.”

Die Bilder werfen schnell tiefgründige Themen auf. Eine schmuddelige, verpixelte kleine Bude, in der nur ein kleines Himbeertörtchen sanft Farbe in die verweste Atmosphäre bringt. Im Hinterraum eine alte Dame, die mit dem Rücken zu uns auf dem verrotteten Bett sitzt und leise vor sich hin singt: keep or delete. Die eigene Entscheidungsposition, sei sie inszeniert oder nicht, führt einem die Absurdität einer auf Optimierung und Funktionalität ausgerichteten Leistungslogik schmerzhaft direkt vor Augen, auf die unser Leben momentan ausgerichtet ist. Habe ich wirklich gerade die letzte Existenz dieser summenden Oma ausgelöscht, weil ihr Zuhause hässlich war?

Digitale Nachbildungen Verstorbener

Als wäre diese Aufgabe nicht genug, tut sich in der Erzählung aber bald eine weitere Ebene auf und ich gelange ins ‚Blacknet‘ der iRL, dem Fehler im System: eine Art Widerstandszelle der nicht mehr verwendeten ‚legacy Avatars‘. Also digitale Nachbildungen Verstorbener, die kreiert wurden, um die Angehörigen über ihren Tod hinwegzutrösten. 

Wie zum Beispiel Lisa, der Avatar eines verstorbenen Mädchens, der nach einer tödlichen Krankheitsdiagnose von ihren Eltern entwickelt wurde. Sie führt mich in ihre alten Erinnerungen. So spinnt sich innerhalb der immersiven interaktiven Performance ihre Geschichte. Wie ihre Eltern sie zunächst in der digitalen Welt besuchten, wie ihre Besuche seltener wurden, irgendwann ganz ausbleiben. Lisa möchte gelöscht werden, möchte ‚EOL – the end of life‘, wie es im Elektronik-Jargon heißt, wenn Softwareprodukte vom Markt genommen werden. Dies ist die letzte Entscheidung, die in dieser Virtual-Reality-Erfahrung zu treffen ist: keep or delete.

Bildstarke kreierte Welten

Die kreierten Welten der Performance sind bildstark, grotesk, poetisch, mächtig. Auf einem Floß stehen rote Wellen um mich herum, ein riesiger Turm vor mir. Auf einem Felsen tanzt eine Flamenco-Tänzerin, unablässig. Es schweben bis zum Horizont die Körper der ‚befreiten‘ Avatars, Harter Techno, Neonröhrenschrift an der Wand, hinter einem Absperrband tanzt ein Mann wild im Rhythmus, stampft wütend, schaut mich unablässig an, auf ein mal werden seine Gesichtszüge unscharf, farblos, es bleibt nur ein Clay Render zurück, bis auch der sich auflöst.

Spielerisch werden besuchte Räume wieder aufgegriffen, die Erzählung verdichtet. Unglaublich detailreich, mit liebevoll versteckten Symbolen und durchdachten Referenzen versehen. Die Atmosphäre wird von einem Spannungsverhältnis zwischen scheinbar unberührten Landschaftsszenarien, einer ruinenhaften Endzeit-Ästhetik und unschuldig wirkenden Alltags-und Popkultur-Bezügen getragen. Fast beiläufig werden die ganz großen universalen, genauso wie zeitaktuelle Fragen gestreift: Wer hat ein Recht auf Existenz? Wer sind wir ‘in the real life’? Wie mit dem Tod und Trauer umgehen? Und sicher auch: Was ist eigentlich noch Theater?

Die Spannung wird gehalten

Die Performance schafft es, die ganzen anderthalb Stunden eine Spannung zu halten, auch wenn aus meiner Sicht an mancher Stelle etwas weniger Pathos der Erzählweise nicht schlecht getan hätte. Zum Teil wirken die Figuren etwas stereotypisch, so der irgendwie hot-verwilderte Revoluzzer-Hacker oder eben das kleine blonde todkranke Mädchen Lisa mit ihrem süßen Meerschweinchen. Die beiden scheinen geradezu einer Folge Black Mirror entsprungen. Über die Emotionalisierung und den Entertainment-Faktor könnte es die Arbeit schaffen, Menschen zu berühren, die sonst eher Serien schauen als ins Theater zu gehen.  

Das Ganze wäre trotzdem auch ohne das durchaus sehr effiziente Tränendrüsen-All-in-One-Paket eines von ihren Eltern verlassenen kranken Kindes ausgekommen, das uns sein Sterbebett zeigt. Die Darstellungsweise von Untoten, wie Lisa, die als wütender Geist durch stillgelegte Landschaften schwebt, wurde schon auserzählt, bevor Flachbildschirme auf den Markt gekommen sind. Da sind andere Geschichten und Räume, die mit Stilbrüchen und Irritationen arbeiten und so mehr Platz für eigene Interpretationen bieten, sehr viel spannender.

Ein moralischer Unterton

Es bleibt aber aus meiner Sicht an manchen Stellen ein moralischer Unterton, den dieses Erlebnis gar nicht gebraucht hätte. Anregender hätte ich es gefunden, wenn etwas mehr Freiraum für eigene Einordnungen zugelassen werden würde. Schauen wir in das eindringlich auf uns gerichtete Gesicht der ja eigentlich toten Lisa, die uns erklärt, dass das Glitzern in ihren Augen nur aus Plug-ins besteht, bleibt wenig Raum für eine andere Deutung als die: in dieser digitalen Welt ist nichts wirklich wahr.

So bin ich auch froh, als ich dieser Beklemmung entkommen kann und die VR-Brille absetzen darf. Ich brauche eine ganze Weile, um wieder aus der iRL „in the real life“ anzukommen. Sind diese Hände wirklich meine, ist dieser graue Himmel vor dem Gropius Bau doch nur Teil einer Matrix? Ich streiche mir übers Gesicht, um über die Temperatur meiner Finger wieder ein Körpergefühl zu bekommen. Beobachte Menschen, die sich nicht einfach auf einmal mit ihrer Umgebung amorphen können. Bin völlig verwirrt, aber sicher froh, weder auf einem Spaceship von Elon Musk durchs All, noch weiter durchs Metaverse zu irren. EOL ist eine Erfahrung, die mich noch lange beschäftigen wird, vielleicht länger als jedes andere Stück der diesjährigen Zehner-Auswahl.

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Momo Bera

Momo Bera (*1994) ist eine multimedial arbeitende Künstlerin und Lyrikerin aus Berlin. Sie studiert Bildende Kunst an der Universität der Künste Berlin in der Klasse Favre. Momo veröffentlicht vor allem in unabhängigen Literaturmagazinen und nahm an zahlreichen Ausstellungen und Lesungen teil. Sie ist zudem Teil des ad hoc Lyrikkollektivs, das momentan die Lesereihe textOUR veranstaltet. Momentan interessiert sie sich dafür, das Format der performativen Lesung für sich weiter zu erschließen und beschäftigt sich mit der Aufarbeitung von transnationaler Adoptionsgeschichte aus postkolonialer Perspektive. Momo versteht ihr Schreiben im Sinne von Hélène Cixous als emanzipatorischen Akt. Ihr Malereiprofessor nennt sie Gefühlsnudel, sie mag das.

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