TT-Blog: Guten Tag, Ewald Palmetshofer. Glückwunsch zur Einladung! Wie sind Sie auf den Text „Die Gewehre der Frau Carrar“ von Brecht gestoßen?
Ewald Palmetshofer: Wir haben überlegt, was Luise Voigt am Residenztheater inszenieren könnte, und sie hat Brechts Stück vorgeschlagen. Wir haben den Text gelesen und waren von ihm überrascht und beeindruckt. Zumindest ich kannte das – vergleichen mit seinen anderen Werken – eher unbekannte Stück von Brecht davor nicht. Wir haben uns dafür entschieden, weil wir gemerkt haben, dass es erstaunlich und beunruhigend aktuell ist.
TT-Blog: Wie ist die Zusammenarbeit mit Björn SC Deigner entstanden?
Ewald Palmetshofer: Die Idee kam von Luise Voigt. Wir haben das im Team besprochen und gemerkt, dass es Sinn macht, Brechts Stück noch von einer anderen Seite zu befragen. Der Text ist ein relativ kurzer Ein-Akter, der Raum und Zeit lässt, länger bei den Fragen, die er stellt, zu verweilen, und es schien uns sinnvoll zu intervenieren. Wir greifen nicht textlich in Brechts Stück ein, das wäre rechtlich vermutlich auch gar nicht möglich gewesen, sondern wir suchen in einem zweiten Teil die Auseinandersetzung mit ihm. Es gibt von Brecht eine Notiz zum Carrar-Stück, in der er erahnen lässt, dass er damit nicht ganz zufrieden war, weil es seine eigene Programmatik des „Epischen Theaters“ unterläuft. Brecht sagt, der Text sei aristotelische Einfühlungsdramatik und schlägt vor, ihn deswegen zusammen mit einem Dokumentarfilm über den Spanischen Bürgerkrieg oder mit einer propagandistischen Veranstaltung zu zeigen, um noch eine andere, epischere Perspektive einzunehmen. Bei uns ist das kein Dokumentarfilm, sondern ein Text aus der Gegenwart, der in den Dialog geht.
TT-Blog: Ist die Fortschreibung von Deigner auch eine inhaltliche Intervention, weil Ihnen der Brecht-Text zu kriegsfreundlich ist?
Ewald Palmetshofer: Brechts Stück ist nicht kriegsfreundlich, es benennt nur ein Dilemma und macht deutlich, was der Preis von Carrars Enthaltungsstrategie ist. Brecht zeigt aber nicht den Preis, den Frau Carrar zahlt, wenn sie mit dem Gewehr, ihrem Sohn und ihrem Bruder aus der Küche rausgeht, wenn sie in den Widerstandskampf gegen das Franco-Regime geht. Brecht konnte auch noch nicht wissen, wie der Krieg ausgehen wird. Franco gewinnt ihn, es folgen 40 Jahre Diktatur. Wir wollten zeigen, was auf der anderen Seite der Waagschale liegt, die weiteren Verluste miterzählen und verdeutlichen, dass die Logik, die am Ende mit dem Maschinengewehr spricht, letztendlich Abschreckung und Aufrüstung bedeutet.

TT-Blog: Neben den zwei Autorenhandschriften finden sich auch zwei Ästhetiken in der Inszenierung. Der Brecht-Teil ist ein Kammerspiel, dass an einen 1930er Jahre-Film erinnert. Im zweiten Teil, dem Deigner-Text, sprechen die Spielenden wie Menschen von heute. War das so geplant, oder ist das im Laufe der Proben entstanden?
Ewald Palmetshofer: Die Fragen, die Brechts Text stellt, wirken irritierend gegenwärtig. Es ging aber nicht darum, die Gegenwart im Historischen zu suchen, sondern das Historische sichtbar zu machen, großzuziehen und als Verfremdung zu nutzen. Die Aktualität der Argumente in Brechts Stücktext wird dadurch umso deutlicher. Es war aber klar, dass mit dieser Spielweise im zweiten Teil, in „Würgendes Blei“, gebrochen werden muss. So stellt eine der Stimmen in Deigners Text die Frage, was für ein Krieg das hier ist und in welcher Zeit wir sind. Man weiß im zweiten Teil nicht genau, ob die Zeit im Zeitraffer bis ins Heute fortgeschritten ist oder ob es eine zeitlose Zeit ist, in der die Figuren aus dem historischen Setting als Wiedergänger auftreten. So muss der zweite Teil eine andere Ästhetik haben und versuchen, sich der Carrar als zeitgenössische Figur zu nähern. Deigners Text regt das auch an, weil die Sprache darin auf besondere Weise lyrisiert und formalisiert ist. Die Schauspieler*innen sind bei Deigner eher eine Spieler*innengruppe. Sie befragen die Figur der Carrar, nachdem sie den Brecht-Teil gespielt haben.
TT-Blog: Sie sagen, Frau Carrar wird in die Gegenwart geführt, aber es wird trotzdem auf jegliche Analogie zu Gegenwartskriegen verzichtet. Ist das eine bewusste Setzung gewesen?
Ewald Palmetshofer: Deigners Text lässt offen, wo und wann er stattfindet. Er belässt die Figur der Frau Carrar in dieser Geschichte, ohne sie zu verwandeln. Die Analogien entstehen durch Situationen wie jene, in der Frau Carrar im zweiten Teil vermutlich ihrem Sohn begegnet. Aber es wird nicht gesagt, wo das stattfindet, wer das heute wäre. Das Publikum ist eingeladen, das selbst zu füllen und je nach Erfahrung mit unterschiedlichen Orten zu belegen.
TT-Blog: Brechts Theater hat oftmals moralisch gedacht. Heute ist die Moral auf der Bühne eher verpönt. Wie sind Sie mit Brechts Moral umgegangen?
Ewald Palmetshofer: Meint Moral die Moral des Stückes mit erhobenem Zeigefinger, oder meint es die ethische Frage, die zur Debatte gestellt wird? Brecht hatte angesichts der historischen Situation des Spanischen Bürgerkriegs eine klare Haltung. Sein Text fragt, ob Gegenwehr moralisch legitim ist. Das ist keine Zeigefingerfrage, er lässt Dafür und Dagegen aufeinanderfolgen. Am Ende wird offensichtlich, dass die Enthaltung nicht vor dem Angriffskrieg verschont. Aber die moralische Frage bleibt. Wahrscheinlich würde man nach dem ersten Teil als Zuschauer*in anders aus dem Abend rausgehen. Ich glaube, es ist aber wichtig, diesen gesamten Bogen zu haben, den ganzen Weg zurückzulegen. Denn nach dem Brecht-Teil würde man vermutlich mit einem deutlichen „ja“ herausgehen. Im Gesamtbogen ist es sowas wie „ja, und aber auch.“
TT-Blog: Sie sprachen davon, dass der Deigner-Text das Dilemma verkompliziert. In welchem Sinne stellt er die politische Dimension nochmal komplexer dar?
Ewald Palmetshofer: Ich meine damit, dass Deigners Text zur ethischen Frage von Neutralität und Enthaltung noch weitere Elemente hinzugibt. Frau Carrar greift zum Gewehr, zieht in den Verteidigungskrieg. „Würgendes Blei“ fügt dem noch andere Elemente hinzu und fragt: Was macht die Waffe mit Frau Carrar? Was bedeutet der Verlust des Bruders? Was die Entfremdung von ihrem Sohn? Die Flucht? Die Zerstörung von Gebäuden und ganzen Landstrichen? All das ist Teil dieser Katastrophe. Das ist nicht Thema von Brechts Stück, und das ist vor dem historischen Hintergrund auch nicht verwunderlich. Es geht darum, heute mit Brechts Text umzugehen, und dafür kommen diese Elemente bei Deigner noch hinzu. Aber nicht, weil Brecht unterkomplex ist, sondern weil wir das Bild anreichern müssen. Deigners „Würgendes Blei“ bleibt dabei fragmentarisch und kommentierend. Deigner erhebt nicht den Anspruch, ein komplettes Bild zu zeichnen. Sein Text spricht an einer Stelle von einem „Sittengemälde der Grausamkeit.“ Die hinzugefügten Elemente machen das Bild komplexer und fragen: Was muss noch mit hineingedacht werden? Aber sie schließen das Bild und die Fragen nicht ab.