Einen gemeinsamen Termin mit Christine Wahl zu finden, war schwierig, so häufig ist sie gerade unterwegs. Zwar sichtet sie gerade keine Premieren, dafür schaut sie alle Inszenierung der diesjährigen Zehner-Auswahl an, um den Vibe der diesjährigen Auswahl zu spüren und den Diskurs darüber weiter zu führen. Sie ist 2025 zum zweiten Mal nach 2011 in die Jury berufen. Am Wochenende war sie noch kurz in Mülheim für die Theatertage, wo sie bis dieses Jahr in der Jury saß.
Wir treffen uns online, kennen uns aber von einem journalistischen Workshop. Christine Wahl, das ist die große Frau mit Dutt, irgendwo mittig in den vorderen Reihen des Theatersaals. Bewaffnet mit Stift und Block, um eine Kritik zu schreiben oder ihr Votum für das Theatertreffen abzugeben. Auf den ersten Blick wirkt sie zurückhaltend, taut im Gespräch über Theater aber schnell auf.
Nach dem Theatertreffen ist vor dem Theatertreffen
Wahls 30-jährige Seherfahrung fließt jetzt in die Juryarbeit ein. Das Theatertreffen läuft zwar noch, aber die neue Jury hat schon im Januar angefangen, Inszenierungen für die kommende Auswahl zu sichten. Die Jury besteht aus sieben Theaterkritiker*innen aus dem deutschsprachigen Raum, sie werden zeitversetzt für drei Jahre berufen, sodass sich die Jury nach und nach verändert. Sie schlägt der Leitung des Theatertreffens zehn Produktionen vor, die die Auswahl bilden, wobei die Hälfte von Frauen inszeniert sein muss. Nach jedem Theaterbesuch im Sichtungszeitraum müssen die Kritiker*innen ein Votum abgeben, schön einfach mit „ja“ oder „nein“ und einer kurzen Begründung. Wenn mit „ja” gestimmt wird, kommen die anderen und stimmen ebenfalls ab. Wenn viermal „ja“ gestimmt wurde, ist die Produktion in der Auswahl für die Diskussion der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen.
Seit Januar schauen Christine Wahl und ihre Kolleg*innen Alexandra Kedves, Vincent Koch, Sabine Leucht, Martin Thomas Pesl, Falk Schreiber und Sascha Westphal im gesamten deutschsprachigen Raum Theaterpremieren. Jede*r ist für einen bestimmten Bereich verantwortlich: Wahl ist zuständig für Berlin und das Umland. Anders als in den Jahren davor gibt es nicht mehr zwei Berliner Kritiker*innen. Stattdessen übernimmt Christine Wahl alleine Berlin, und Vincent Koch übernimmt von Leipzig aus Ostdeutschland. So werden Ostdeutschland und seine Theaterszenen endlich aufgewertet. Außerdem findet mit dem 2001 geborenen Vincent Koch die Gen-Z Einzug in die Jury. Christine Wahl hält es für wichtig, dass unterschiedliche Generationen und Theatersozialisationen darin vertreten sind.
Sehschulung, die heute sonst keiner mehr zahlt
„Gerade ist es noch entspannt”, sagt Wahl. Wenn zum Ende des Jahres die eigene Nervosität steigt und man anfängt, die positiven Voten der anderen Juror*innen zu schauen, beginnt die wirkliche Reisezeit. Wahl rechnet damit, am Ende des Jahres 160 Stücke gesehen zu haben. Ihr Ziel ist es, alle Premieren an Berliner und Potsdamer Staatstheatern und viele aus der freien Szene zu sehen, der logistische und zeitliche Aufwand dafür ist immens. Wenn man die Sommerpause abzieht, besucht sie jeden zweiten Abend eine Vorstellung. Und da nicht alle in Berlin sind, schläft sie mindestens einmal pro Woche im Hotel, dem Bundesreisekostengesetz sei Dank. Die Arbeit in der Jury deckt aber nicht alle Lebenskosten, sodass alle außerdem noch als Kritiker*innen arbeiten.
Wahl ist dankbar für die Möglichkeit, die die Arbeit für das Theatertreffen bietet. Die meisten Zeitungen bezahlten keine großen Dienstreisen mehr, und so sei die Juror*innentätigkeit eine gute Sehschulung: „Du kommst dann als Kritikerin aus deinem eigenen Gebiet raus und kannst in sehr viele andere Szenen schauen.” Das Theater sei eben wirklich vor Ort für die Leute vor Ort gemacht, und deswegen würden sich auch die Theater-Ästhetiken unterscheiden. Als Kritiker*in kommt man in die Lage, die „eigene Theatersozialisation und eigene Seherfahrungen nochmal ganz anders zu bespiegeln und zu hinterfragen.” Dadurch könne man in der Diskussion um die Zehner-Auswahl die Inszenierungen aus dem eigenen Gebiet auch besser ins Verhältnis zu den anderen setzen.
Mühselige und begeisternde Phasen
Für die Kritikerin ist „das Allerschwierigste und eigentlich aber auch das Allerschönste” am Theatertreffen die Kategorie „bemerkenswert”: Es wird nicht nach der besten oder gelungensten Inszenierung gesucht, sondern nach der bemerkenswertesten. Wahrscheinlich ist das auch die am leidenschaftlichsten geführte Diskussion des Publikums auf der Wiese vor dem Haus der Berliner Festspiele. „Das ist so schön ausdeutbar, und bei sieben Kritiker*innen auch sehr individuell.” Es gebe Abende, auf welche die Jury sich ganz schnell einige, „aber auch solche, wo man denkt: Den kann man nur großartig finden, und dann steht man ganz alleine damit da.”
In den Gesprächen mit Christine Wahl spürt man in jedem Moment ihre Begeisterung für das Theater und die Kritik. Auch wenn eine enge Beziehung zum Theater mühselige Phasen habe, sei die Anstrengung verschwunden, wenn sie nach vielen gesehenen Inszenierungen plötzlich eine sehe, die sie begeistere. Sie rät allen Kritiker*innen, die diese Begeisterung verloren haben, aufzuhören. „Man ist es den Künstlerinnen und Künstlern, dem Theater und sich selbst schuldig, dass man sich diese Begeisterungsfähigkeit erhält.”