Das innere Weddinger Kind sagt: Ich kann das!

Anita Vulesica ist Regisseurin und Schauspielerin. TT-Bloggerin Lily Diemer hat sie getroffen und eine mitreißende, für das Theater brennende Frau kennengelernt.

„Da schlägt einem das Herz direkt höher“, sagt Anita Vulesica, als wir uns am Bühneneingang zum Haus der Berliner Festspiele treffen. Wir haben einen guten Zeitpunkt erwischt, gerade werden Bühnenbild-Teile aus ihrer Inszenierung „Die Maschine“ aus einem Lastwagen hinuntergehievt. Vulesica schiebt sich die Sonnenbrille in die Haare und fotografiert freudig die halbe Maschine, wie sie mitten auf dem Parkplatz liegt. Als sie sich wieder umdreht, grinst sie.

Vulesica ist zu früh, sie wirkt fröhlich, bietet direkt das „du“ an und sagt, dass sie zwei Stunden Zeit habe. Sehr viel für eine, die in der Theaterwelt gerade gefragt ist. Voller Energie läuft sie zum Interviewort.

3sat-Preis für innovative Leistung

Dieses Jahr ist sie mit ihrer Inszenierung „Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh“ des Schauspielhauses Hamburg zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Im Rahmen dieser Inszenierung erhält sie den 3sat-Preis für künstlerisch innovative Leistung. Sie freut sich sehr über den Preis, würde ihn auf ihre Inszenierung bezogen aber eher Preis für „Meisterklasse der Präzision“ nennen und sagt lachend, „oder dafür, wie die Schauspieler*innen diesen Text auswendig gelernt haben.“ Der Text ist ein kniffliges Sprachspiel, mit großem Tempo, welcher präzises Spiel verlangt. 

Als wir es uns im Tiny House des TT-Blogs gemütlich gemacht haben, das im Garten der Berliner Festspiele steht, sagt sie: „Das ist immer sehr magisch, wenn der ganze Budenzauber sachlich von herrlichen Kolleg*innen sortiert und geschoben und gedreht und getragen wird. Dann sieht man mal, was Theater für ein großer Organismus ist und wie viele daran mithelfen, Poesie und Fantasie zu erzeugen.“ Sie ist immer noch gerührt von dem Anblick der Bühnenbild-Teile.

Vulesica erste in der Familie mit Studium

Es ist spürbar, wie sehr sie die Arbeit, Ideen und Zeit ihres Teams wertschätzt. „Ich bin kunstfern aufgewachsen, war selbst ein Arbeiterkind, daher weiß ich, was harte Arbeit ist.“ Vulesica ist in München geboren und wuchs als Kind von Gastarbeitern zwischen Berlin und Zadar in Kroatien auf. Sie machte die Ausbildung zur Sozialpädagogin, und war die erste in der Familie, die studierte: 2001 beendete sie ihr Studium an der Schauspiel-Schule Ernst Busch in Berlin. 

Jahrelang begleitete sie das Gefühl, dass die Bezeichnung „Schauspielerin“ für sie nicht vollständig stimme. Sie stieß sich immer wieder an den Kategorien, an den Versuchen, sich irgendwo reinzupressen. Sie spielte unter anderem in Leipzig, Jena und Frankfurt. Bis 2017 gehörte sie zum festen Ensemble des Deutschen Theaters Berlin. Die Stelle kündigte sie, um sich ganz der Regie zu widmen. 2015 wagte Vulesica den Schritt und inszenierte erstmals als Regisseurin, Autorin und Schauspielerin zugleich. „Mother“ ist ein Stück, in dem sie ihre Migrationsgeschichte verarbeitet und was es bedeutet, als Frau auf der Bühne zu stehen. Obwohl die Autorin und Regisseurin in ihr schon viel früher da gewesen seien, sei es als Frau schwierig gewesen, „schubladenübergreifend“ zu agieren. Sie habe oft gehört, dass sie „zu viel“ wolle.

Ein Kampf, Regisseurin zu werden

Sie habe die Chance erhalten, „Mother“ aufzuführen, aber es wurde keine Werbung gemacht und anfangs lediglich eine Aufführung angesetzt – die Aufführung wurde ein Erfolg. Trotz viel Gegenwind wurde sie durch ihren inneren Kampfmodus angetrieben. „Es war ein richtiger Befreiungsschlag“, sagt sie heute darüber, den Schritt in die Regie gewagt zu haben. Das Stück hat sie bis 2019 aufgeführt. „Gott sei Dank ist da das innere Weddinger Straßenkind, das sagt: ‚Ich kann das!‘“ Es sei ihr nicht in den Schoß gefallen, sie habe dafür gekämpft, Regisseurin zu werden. Nun gebe es für sie kein Zurück mehr.

„Es ist ein körperliches Handwerk, getrieben von Musikalität, Sprache, Überraschung.“ Besonders wichtig bei der Arbeit als Regisseurin sei es, die Würde aller Beteiligten beizubehalten, sich stetig der eigenen Verantwortung bewusst zu sein. Im Arbeitsprozess könnten schon die Fetzen fliegen, Reibung und das „pushen zum bestmöglichen Ergebnis“ seien jedoch wichtig, damit nichts „Lauwarmes“ dabei rauskomme.

Machtmissbrauch durch Idioten

Genau darin liege die große Gefahr des Machtmissbrauchs an Theatern. „Verletzbarkeit ist die Ware, mit der wir arbeiten“, sagt Vulesica. Ihre eigene Biografie hilft ihr – seit über zwanzig Jahren steht sie als Schauspielerin auf der Bühne und vor der Kamera. So könne sie als Regisseurin besser ahnen, wie unsicher sich Schauspieler*innen in der ersten Probe fühlten und versuche schneller, einen „Spielplatz“ zu ermöglichen. Also einen Ort, an dem sich zwanglos ausprobiert werden kann. Dafür braucht es das Bewusstsein dafür, dass sich die Schauspieler*innen „dir zur Verfügung stellen.“ Machtmissbrauch passiere auch in „Mini-Dosen“ viel zu schnell, fährt sie fort. 

Zu beleidigen sei nämlich ganz leicht, auch wenn die Regisseure „die ganzen Kerle, die das getan haben denken, dass sie besonders intelligent sind.“ Viel schwieriger sei es, die Grenzen der anderen zu kennen und zu schützen. Dafür brauche es einen stetigen Dialog, dem die Verantwortlichen zuhören und im Notfall ihre Konsequenzen daraus ziehen. Ausbildungsstätten für Regisseur*innen sollten ihre Leute zudem besser schulen, wie man mit Spielenden spreche, sagt Vulesica. Sie hält kurz inne, ergänzt dann: „Es wird immer Idioten geben, aber es muss darüber gesprochen werden.“ 

Den Humor in der Katastrophe suchen

Was sie mit ihren Inszenierungen erreichen möchte? Ihr Antrieb für ihre Arbeit sei das Bedürfnis, zu trösten. „Die Irrwitzigkeit im Schrecklichen, den Humor in der Katastrophe.“ Das Leben sei „katastrophal und total lustig zugleich“, und im Theater sei die Perspektive durch eben diese „bittersüße Träne“ möglich. 

Vulesica hofft, dass „Die Maschine“ und damit auch Georges Perec, der französische Autor des ursprünglichen Hörspiels, in Deutschland ihren Platz finden – 2024 hat sie schon „Die Gehaltserhöhung“ von ihm inszeniert. Abgesehen von Perec wünscht sie sich in Zukunft, nahbares Theater in theaterfernen Milieus zu machen. Am besten mit Jugendlichen, die aus von der Schließung bedrohten Jugend- oder Freizeitheimen kommen. „Da kommt wohl die Sozialpädagogin wieder hervor“, schiebt sie lachend ein. 

Zum Abschied eine Umarmung

„Ich möchte den Heranwachsenden, die sich selbst nicht trauen, ganz frech so ne Inszenierung durchdrücken, damit sie sehen, dass sie auch andere Möglichkeiten haben.“ Gerade, weil sie sich selbst diesen Traum, diese Leidenschaft lange nicht eingestehen konnte. „Aber diese Stadt muss sich erstmal wieder erinnern, was sie zu tun hat: Kulturpflege.“ Damit schließt sie unser Gespräch. 

Vulesica strahlt trotz ihrer energetischen Direktheit Ruhe aus, sie hat etwas Mitreißendes an sich. Zuversicht und Liebe fürs Theater. Wir stehen noch kurz in der Sonne im Garten der Berliner Festspiele. Sie fragt mich nach meinen Theaterplänen dieser Woche. Ob ich mir „Die Maschine“ und die Preisverleihung anschaue? Und ob ich nicht Lust hätte, mir noch ihre Inszenierung „Die Gehaltserhöhung“ am Deutschen Theater anzusehen? Dann könne sie mir noch eine Karte besorgen. Sie lächelt mich voller Wärme an und verabschiedet sich dann mit einer überschwänglichen, herzlichen Umarmung. 

–––

Lily Diemer

Lily Diemer (*2000) lebt in der Schweiz. In Bern studiert sie Germanistik und Theaterwissenschaft im Master – quasi Profi-Leseratte mit Bühnenfieber. Ansonsten arbeitet sie im Hintergrund von Theaterproduktionen und jongliert mit Worten, um Kleinstadt-Kolumnen für die Lokalzeitung zu schreiben. Die kleinen Dinge im Leben dokumentiert sie beruflich und privat: Sie sortiert Bücher nach Farben, sammelt Wörter und einsekündige Videos. Faszinierend findet sie die Kraft der Sprache und das, was entsteht, wenn Menschen im Theater zusammenkommen. Sie freut sich auf Theatergenuss in Berlin mit Kiba-Boost. Wer braucht schon Champagner in der Pause?

Alle Artikel