Der Regisseur ist tot. Es lebe der Regisseur!

In „ja nichts ist ok“ meint man, René Pollesch hören zu können. Ein starker Abend über Vereinzelung, doch einen bekannten Theatertrick hätte es nicht gebraucht.

Nach René Polleschs Tod schrieb Fabian Hinrichs vor mittlerweile über einem Jahr in seinem Nachruf auf nachtkritik.de: „Warum nicht Nachrufe erst in einem Monat, zwei Monaten, einem Jahr? Wenn die Gefühle gerinnen konnten zu Gefühlsgedanken. Vielleicht sollte ich das übernehmen, für mich, für René. Jedes Jahr einen Nachruf schreiben für René.”

In der zum diesjährigen Theatertreffen eingeladenen Inszenierung „ja nichts ist ok” übernimmt Schauspieler und Co-Regisseur Fabian Hinrichs als Solist symbolisch den Nachruf auf René Pollesch, den verstorbenen Regisseur, Autor und Intendanten der Berliner Volksbühne. Pollesch und Hinrichs haben das Stück 2024 wenige Wochen vor Polleschs Tod gemeinsam zur Premiere gebracht. Und es wirkt, als hätte Pollesch den eigenen Tod schon vorausgeahnt.

Klarkommen zwischen Wäschehaufen und Krieg

Fabian Hinrichs spielt allein die vier Bewohner*innen einer Wohngemeinschaft, die er im besten Brechtschen Sinne der Verfremdung mithilfe von Requisiten andeutet, als Stefan setzt er sich eine Brille auf, und als Claudia legt er sich einen Pulli über die Schulter. 

Sie versuchen, zwischen Wäschehaufen, Digitalisierung, Arztterminen, Krieg und Vereinzelung klarzukommen. Doch das WG-Leben in Anna Viebrocks Bühnen-Bungalow kriselt. Stefan findet, dass Claudia nicht sauber genug ist. Die Diskussion von Paul und Stefan, ob es legitim ist, Bomben auf Wohngebiete zu schmeißen, rutscht ins Persönliche, Stefan zieht über Pauls „flachen Arsch“ her (so viel zur Diskussionskultur). Und mittendrin meldet sich der Kühlschrank Bixby oder die virtuelle Sprachassistentin Alexa.

Hinrichs schleift sich selbst in den Pool

Die Vereinzelung der WG-Mitbewohner*innen greift um sich, sie wollen einander nicht mehr sehen. Stefan eskaliert den Konflikt, als er aus DHL-Paketen eine Mauer baut und das Zimmer teilt. Paul geht es da schon nicht mehr ok, und Claudia kann ihm auch nicht mehr helfen. Da hilft Paul und Claudia nur noch ein Urlaub in einem Airbnb, in dem plötzlich aber auch Stefan auftaucht. Und dort muss es in der Prügelei zwischen Paul und Stefan enden, sodass sich Hinrichs selbst in den Pool schleift. Und so bleibt mit Pollesch gesprochen die Erkenntnis: „Die wenigsten sind für das 21. Jahrhundert geeignet.”

Die Krisenhaftigkeit der Gegenwart durchbricht Hinrichs mit einigen Flachwitzen. Sie lockern die Stimmung im Publikum auf, wirken aber flach, weil es ein offensichtlicher Versuch ist, das Publikum auf seine Seite zu ziehen. Und warum muss die Stimmung überhaupt aufgelockert werden, darf sie nicht einfach so bleiben?

Das Ende ist zu einfach

Andere Pollesch-Stücke, wie der Pollesch-Hinrichs-Theatertreffen-Hit „Kill your Darlings! Streets of Berladelphia” oder „Liebe, einfach außerirdisch” konnten einen aus dem Trubel des Alltags herausholen und die Möglichkeit geben, über unsere Lebensweisen nachzudenken. Das schafft dieser Abend nur teilweise. Obwohl die Vereinzelungs-Analyse sitzt, wie bei Pollesch/Hinrichs nicht anders zu erwarten, verkommt das Ende zu einfach. Der vierte Mitbewohner, der sich als der Erzähler herausstellt, wird dafür von einer Gruppe Statist*innen unter sich begraben. Es ist mal wieder eine Gruppe von Statist*innen, das Kollektiv, das ein Gefühl der Vereinzelung in Gemeinschaft auflösen soll. Ein simpler Theatertrick, der bereits aus anderen Pollesch-Abenden bekannt ist. Braucht es also das Kollektiv auf der Bühne? Reicht nicht unser Kollektiv im Publikum?

„ja nichts ist ok”  ist ein trauriger Abend, der untersucht, welche Auswirkung die bitterböse Realität auf die Individuen hat. Die Antwort ist nicht schön, denn sie lautet Vereinzelung, und wie sagt es Hinrichs so treffend: „Wenn der Mensch allein ist, wird er verrückt.“

Pollesch lebt in seiner Kunst weiter

Neben den großen letzten Erfolgen steht nach dem Tod bekannter Regisseur*innen auch immer die Person selbst im Mittelpunkt. So ist bei der Vorstellung der frühe Tod von Pollesch jederzeit zu spüren. Es ist unmöglich geworden, beim Schauen nicht an ihn zu denken. Sätze wie „Ich sterbe unter unvorstellbaren Qualen / Ich lebe unter unvorstellbaren Qualen / Ich arbeite unter unvorstellbaren Qualen” bekommen durch den Tod eine ganz andere, traurigere, Bedeutung. René Pollesch lebt in diesen Momenten in seiner Kunst weiter, getragen von Fabian Hinrichs. Ähnlich wie bei Sarah Kanes späten Stücken meint man, die Theatermacher*innen durch den Text hören zu können.

Und so geht man aus dem Saal heraus und weiß, dass nichts okay ist, aber dass es weiter geht. Irgendwie. Auch auf dem Spielplan der Volksbühne.

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Tim Wedell

Tim Wedell (er/they), geboren in Bremen, beendete im April sein Studium der Deutschen Literatur und Sozialwissenschaften in Berlin mit einer Bachelorarbeit über theatrale Selbstreflexion und die Inszenierung des Liebesdiskurses bei René Pollesch. Parallel zum Studium absolvierte er Dramaturgie- und Regiehospitanzen am Maxim Gorki Theater und dem Berliner Ensemble bei Leonie Böhm, Sebastian Nübling und Robert Borgmann. Zudem ist er seit 2024 Autor bei der jungen bühne. 2025 werden erste eigene Regiearbeiten mit dem Kollektiv Toni Timke folgen. Sein Interesse gilt dabei insbesondere dem politischen Theater und dem Versuch, über die Welt fernab individueller Perspektiven nachzudenken.

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