Ich liebe Musiktheater! Ich liebe die emotionale Wucht, mit der persönliche und gesellschaftliche Konflikte verhandelt werden. Ich liebe die Verschränkung von Handlung und Musik. Ich liebe opulente Massenszenen. Ich liebe es, wenn eine Sängerin ganz allein im Spotlight auf einer leeren Bühne steht. Ich liebe die Extreme. Musiktheater ist alles! Klingt kitschig, ist aber so.
Trotz meiner Liebe sitze ich, vor allem wenn zeitgenössisches Musiktheater gespielt wird, immer wieder gelangweilt oder frustriert im Theatersessel. Spricht man heute von „Musiktheater“, denken die Meisten zunächst an die etablierten Formen der Oper und des Musicals, die das gegenwärtige Musiktheater dominieren. Mit diesen beiden Genres geht die Trennung von „ernstem“ und „unterhaltsamem“ oder anders gesagt „hochkulturellem“ und „populärem“ Musiktheater einher: während viele Musicalproduktionen als Entertainment ohne künstlerischen Wert abgetan werden, verschwinden die meisten Opern-Uraufführungen mangels Publikumserfolgs schnell wieder aus den Spielplänen.
Neue Musik hat sich zu einem Elfenbeinturm entwickelt
Diese Tendenz entwickelte sich, als moderne Komponisten wie Arnold Schönberg sich von der traditionellen Harmonielehre verabschiedeten und die Zwölftonmusik begründeten, in der jeder der zwölf Töne gleichwertig ist. Das bedeutete einen Bruch mit traditionellen Vorstellungen musikalischer Schönheit. Diese Abkehr von Gefälligkeit war eine wichtige künstlerische Antwort auf die faschistische Propaganda. Ziel war es, losgelöst von den mit dem Nationalsozialismus verwobenen traditionellen musikalischen Formen eine neue, laut Adorno „nichtidentitäre“ Ästhetik zu schaffen.
Doch das Demokratisierungs-Versprechen scheint ins Gegenteil gekippt: aufgrund ihres Zwangs, nicht gefällig zu sein, hat sich die neue „ernste“ Musik zu einem Elfenbeinturm entwickelt, der in erster Linie der kulturellen Elite vorbehalten ist. Populäre Musicals hingegen werden oft nicht ernst genommen. Und dennoch: Es wäre voreilig, eine Krise des zeitgenössischen Musiktheaters zu diagnostizieren.
Beliebte Musicalfilme bei den diesjährigen Oscars
Außerhalb der traditionellen Opernhäuser und Musical-Theater finden musiktheatrale Neuproduktionen bei Kritik und Publikum Anerkennung. Beispiele hierfür sind die Opernperformances „Faust“ von Anne Imhof bei der Biennale von Venedig 2017 und „Sun & Sea (Marina)“ bei der Biennale von Venedig 2019, oder die bei den diesjährigen Oscars ausgezeichneten Musicalfilme „Emilia Peréz“ und „Wicked“. Besonders „Wicked“ beweist als Faschismusanalyse, dass Popkultur und kritische Auseinandersetzung mit relevanten Themen sich keineswegs ausschließen.
Neben der bildenden Kunst und der Kinoleinwand finden sich auch an Institutionen, die eigentlich als Sprechtheater-Bühnen bekannt sind, zahlreiche musiktheatrale Produktionen. Beim Berliner Theatertreffen, das vorrangig dem Sprechtheater gewidmet ist, war 2022 mit „humanistää!“ eine Produktion des Volkstheaters Wien zu sehen, die als „Abschaffung der Sparten“ definiert ist. Komponist Peer Baierlein entwickelte hierfür ausgehend von Ernst Jandls lautmalerischen Texten Sprech- und Gesangskompositionen, sodass die Inszenierung von Claudia Bauer über weite Strecken musiktheatrale Züge trug. Zum diesjährigen Theatertreffen wird mit Florentina Holzingers „Sancta“ eine von Paul Hindemiths Oper „Sancta Susanna“ ausgehende Stückentwicklung gezeigt.
Opernhäuser sollten vom altbekannten Weg abkommen
An progressiven und populären Musiktheaterformaten mangelt es nicht. Dennoch sind diese auf den Spielplänen der Opernhäuser zwischen den leider oft ungeliebten Opern-Uraufführungen und den vom Abopublikum heiß geliebten Wiederaufnahmen der traditionellen „Carmen“- und „Traviata“-Inszenierungen unterrepräsentiert. Vom altbekannten Weg abzukommen, könnte für Opernhäuser notwendig sein, wenn sie sich weiterhin als Orte des Musiktheaters der Gegenwart verstehen wollen.
Musiktheater ist per se interdisziplinär und sollte mehr als ein kostümiertes Konzert sein. Um ein bloßes Nebeneinander altbekannter Genres zu verhindern, braucht es Mut zur gegenseitigen Kontamination von Kunstformen. Klassische Opern- und Ballettausbildungen beruhen oft auf einer rigiden Körperdisziplinierung. Perfektionistischer Gesang und Tanz, wie sie im Lehrbuch stehen, ist mit Leistungslogiken verknüpft. Ziel eines gegenwärtigen Musiktheaters sollte es sein, diese Leistungslogiken nicht ungebrochen oder zumindest nicht unhinterfragt zu reproduzieren. Florentina Holzingers Stücke, beispielsweise „Ophelia’s Got Talent“ , führen Leistungslogiken ad absurdum, indem ein Spagatsprung mit dem gleichen künstlerischen Perfektionismus vollführt wird wie das choreografierte Auf-die-Bühne-kacken.
Gemäß der individuellen Fähigkeiten auf der Bühne stehen
Zudem werden die Performer*innen nicht auf ein künstlerisches Fach wie „der Heldentenor“ oder „die Primaballerina“ reduziert, sondern stehen gemäß ihrer individuellen Fähigkeiten auf der Bühne – ein Konzept, das bereits Pina Bausch für das Tanztheater prägte, deren Überschreibung „Kontakthof – Echoes of 78“ beim diesjährigen Theatertreffen gezeigt wird.
So sehr hier musiktheatrale Produktionen auf Sprechtheaterbühnen gefeiert werden, soll nicht darüber hinweggesehen werden, dass dieses Format kein Selbstläufer ist: Als das Volkstheater Wien Anfang des Jahres 2025 mit „Krankheit oder moderne Frauen“ eine Neuinszenierung von Claudia Bauer ankündigte, der Regisseurin von „humanistää!“, war meine Vorfreude riesig. Als ich zudem erfuhr, dass der fantastische Wiener Schmusechor an der Produktion beteiligt sein würde, erhoffte ich mir ein musiktheatrales Feuerwerk. Ich saß dann sehr enttäuscht in der Vorstellung: Musik und Text verschränkten sich nicht, wie ich es aus den bisherigen Inszenierungen Bauers kannte. Stattdessen wirkte die Musik eher wie Hintergrundgeplänkel. Der Chor sang nichtssagende Vokalisen und blieb hinter seinen Möglichkeiten zurück.
Claudia Bauer und Peer Baierlein: ein musiktheatrales Dream Team
Erst im Nachhinein bemerkte ich, dass die bisherigen Inszenierungen Bauers, die mich so begeistert hatten, alle in Zusammenarbeit mit Komponist Peer Baierlein entstanden. Die Musik für „Krankheit oder moderne Frauen“ schrieb jedoch der Komponist PC Nackt. Meine Begeisterung gilt also offenbar weniger Claudia Bauer allein als dem musiktheatralen Dream Team Bauer und Baierlein. Dass Regisseur*innen oft im Zentrum medialer Berichte stehen, während Komponist*innen zumindest an Schauspielinstitutionen nur wenig Erwähnung finden, verzerrt den Blick auf das künstlerische Zusammenspiel. Dabei ist es diese Zusammenarbeit, die gutes Musiktheater ausmacht.
Vielleicht findet so viel gutes Musiktheater auf Sprechtheaterbühnen statt, weil sich hier nicht auf dem perfektionistischen Musizieren ausgeruht werden kann und die Strukturen einen freieren Umgang mit der Musik ermöglichen. Die hier beschriebenen Produktionen beweisen, dass sich Musiktheater klug und kritisch mit der eigenen Form und gesellschaftlich relevanten Themen auseinandersetzen und gleichzeitig emotional mitreißend und unterhaltsam sein kann. Wenn Oper sich künstlich exklusiv und elitär macht, treibt sie die gesellschaftliche Spaltung voran, anstatt ihr entgegenzuwirken.
Die wiederholten Auszeichnungen interdisziplinärer Musiktheater-Produktionen beim Theatertreffen zeigen, dass es an der Zeit ist, diese als vollwertiges Musiktheater ernst zu nehmen. Hierfür braucht es mehr Anerkennung für die Komponist*innen, die sich trauen, ihre Musik mit anderen Kunstformen über Genregrenzen hinweg zu verweben. Diese Anerkennung muss sich auch in der finanziellen Förderung niederschlagen. Wenn man Musiktheater nicht ausschließlich auf Opern- und Musicalbühnen sucht, sieht die Zukunft des Genres alles andere als düster aus.