Die eigene Stimme finden

"Unser Deutschlandmärchen" erzählt bewegend von Postmigration, Mutterschaft und einer poetischen Selbstsuche. Eine dichte, musikalische Inszenierung zwischen Alltag und Poesie.

Dinçer steht in einem glitzernden schwarzen Abendkleid auf der Bühne. Neben ihm ein metallener Sarg. „Ich wünschte, ein Mal hättest du gesagt: Fickt euch ihr Wichser!“, sagt er und schaut den Sarg an. „Du warst doch bestimmt mehr als meine Mutter und Babas Ehefrau, warum hast du das nie gezeigt?“

In der autofiktionalen Romanadaption von Dinçer Güçyeters „Unser Deutschlandmärchen“, die von Regisseur Hakan Savaş Mican im letzten Jahr am Maxim-Gorki-Theater uraufgeführt wurde, erzählen Sesede Terziyan als Fatma und Taner Şahintürk als ihr Sohn Dinçer mit musikalischer Untermalung von ihrer Mutter-Sohn-Beziehung. Genauso wie vom Gastarbeiterinnen-Dasein in der westdeutschen Provinz, Alltagsrassismus, Identitätsfragen, offenen Rechnungen und Fatmas pinken Stöckelschuhen, die der Sohn öfter trägt als seine Mutter.

Eine Flucht in die schillernde Literatur- und Theaterwelt

Die Erzählung – oder sollten wir es Märchen nennen? – setzt mit Fatmas Ankunft in Deutschland ein und erzählt von der Geburt ihres Sohnes, seinem Aufwachsen in Almanya („Es heißt nicht „Isch“, Dinka, es heißt „Ich!“), vom Malochen gehen und davon, dass es trotzdem nie reicht. Wie Dinçer erst seine Liebe für die Musik entdeckt, dann für das Dichten, schließlich auch fürs Theater. Mit Klassenzugehörigkeit und den Erwartungen seiner Mutter hadert, schlussendlich in die schillernde Literatur- und Theaterwelt flieht – und wieder nach Hause zurückkehrt. 

Unterlegt werden die einzelnen Passagen mit Live-Musik, gespielt von ​​Ceren Bozkurt, Claire Cross, Bekir Karaoğlan, Peer Neumann und Cham Saloum, zu der Terziyan und Sahintürk türkisch, deutsch und englisch singen. Lieder, die sich in die Inszenierung schmiegen, brüllen, schleichen. Die Band wird dabei immer wieder in das Stück einbezogen und übernimmt so zum Beispiel die Rollen der Vorfahren Fatmas oder ihrer Kolleginnen, was die Inszenierung in Bewegung hält. So wie auch die Ästhetik, die samt Topfschnitt und Fadenvorhang zum Teil wie eine Musiksendung der 70er Jahre daherkommt. Der Bezug zum Roman wird in der Projektion von fotografischen Mustern der Familienbilder aus der Romanvorlage hergestellt.

Ein schillerndes Musikspektakel

Das Stück changiert zwischen einer sensiblen Poetik und einem frech-lieben Humor, der auflockert, aber die Figuren zum Teil ein wenig überzeichnet. So wie Dinçer nach und nach sein Schreiben entdeckt, sich seine lyrische Stimme sucht, tut es ihm die Inszenierung gleich. Sie sucht nach Versprachlichungen, Verbildlichungen, nach Gesten, Mimiken, Liedern. Sucht dabei auch auch einen Ton zu finden, zwischen dem Erzählen einer individuellen Geschichte und ihrer repräsentativen Kraft einer türkischen Gastarbeiter*innenschaft gegenüber, ohne zwangsläufig eine Antwort zu geben.

An manchen Stellen wirken einzelne Inszenierungsideen etwas zu gewollt, etwa wenn zum wiederholten Mal ein Requisit von oben auf die Bühne fällt oder Fatmas Stöckelschuhe von hinten durchs Publikum gereicht werden. Sie sollen vielleicht eine Verbildlichung und eine Atmosphäre kreieren, wirken aber etwas plakativ. Die Inszenierung lebt von den Dialogen und der Dynamik zwischen beiden Figuren, wobei es das Gemeinsam-über-sich-Erzählen in den Vordergrund stellt.

Durch dieses schillernde Musikspektakel zieht sich eine Wut, Müdigkeit und Zärtlichkeit, manchmal ein Unverständnis füreinander, manchmal Fürsorglichkeit. Eine ohnmächtige Wut, halb auf sich selber, halb auf ein System gerichtet.

Subtile Andeutung statt klarer Vorwürfe

Dem schwarzen Abendkleid steht ein Blaumann gegenüber, und Fatma singt in Arbeitskittel zwischen der kostümierten Band. Ob sich da ein Kontrast auftut oder eher die alltagspoetischen Zwischenräume betont werden, lässt sich nicht sagen – vermutlich beides. So steht Fatma auf der Bühne, richtet ihre Worte an das Publikum: „Wer von euch stand schon mal in einer Fabrik am Fließband?“

Vielleicht möchte Hakan Savaş Mican, der in der Rede zur Preisverleihung der Intendantin des Gorkis Shermin Langhoff als „Pionier des postmigrantischen Theaters“ bezeichnet wird, eine Beiläufigkeit behalten. Denn die Benennung struktureller Ausbeutung der Gastarbeiter*innen in der BRD nach ‘45 bleibt subtil angedeutet. Vielleicht möchte Mican sich in der Erzählweise nicht zu sehr mit Vorwürfen an die deutsche Gesellschaft aufhalten, einfach eine Geschichte erzählen. 

Sehnsucht nach Anerkennung und Geborgenheit

Der Ton könnte an einigen Stellen schärfer sein. Zumindest wäre es erleichternd, an mancher Stelle die Wut über strukturelle Ungerechtigkeit klarer adressieren zu können. Es verwundert, dass die Textstellen aus dem Roman in der Inszenierung fehlen, in denen eine Auseinandersetzung mit rechtsextremen Brandanschlägen auf Gastarbeiter*innen in den Neunziger Jahren und die konstante Angst vor rassistischer Gewalt im Lebensalltag geschildert werden.

Stattdessen singt Dinçer mit Herbert Grönemeyer: „Ich brauch‘ niemand, der mich quält / Niemand, der mich zerdrückt / Niemand, der mich benutzt, wann er will / Niemand, der mit mir redet nur aus Pflichtgefühl“. Er verbindet darin die Sehnsucht nach Anerkennung und Geborgenheit – sowohl auf familiärer als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Und das genügt an diesem Abend völlig.

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Momo Bera

Momo Bera (*1994) ist eine multimedial arbeitende Künstlerin und Lyrikerin aus Berlin. Sie studiert Bildende Kunst an der Universität der Künste Berlin in der Klasse Favre. Momo veröffentlicht vor allem in unabhängigen Literaturmagazinen und nahm an zahlreichen Ausstellungen und Lesungen teil. Sie ist zudem Teil des ad hoc Lyrikkollektivs, das momentan die Lesereihe textOUR veranstaltet. Momentan interessiert sie sich dafür, das Format der performativen Lesung für sich weiter zu erschließen und beschäftigt sich mit der Aufarbeitung von transnationaler Adoptionsgeschichte aus postkolonialer Perspektive. Momo versteht ihr Schreiben im Sinne von Hélène Cixous als emanzipatorischen Akt. Ihr Malereiprofessor nennt sie Gefühlsnudel, sie mag das.

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