Es herrscht das Ensemble wortenden Purzeln

In der Inszenierung „Die Maschine“ wird Goethes „Wandrers Nachtlied“ zum Spielball eines absurden, rasanten Sprachlabors. Gelingt es ihr, das hohe Tempo zu halten?

Das Ensemble beherrscht die purzelnden Worte.
Die Worte beherrschen das purzelnde Ensemble.
Das purzelnde Beherrschen des Ensembles Worte.
Die Worte des Ensembles purzeln beherrscht.
Die Worte des Ensembles beherrschen das Purzeln.
Es herrscht das Ensemble wortenden Purzeln.
Das Ensemble purzelt die beherrschten Worte.
Oder so.

Pferdewiehern, Kritzelgeräusch auf Papier. Dann das Gedicht „Wandrers Nachtlied“ von Johann Wolfgang von Goethe. Acht kurze Verse aus dem Jahr 1780, die er mit Bleistift an die Holzwand einer Waldhütte geschrieben hatte, welche aber abgebrannt ist.

Ueber allen Gipfeln / Ist Ruh’, / In allen Wipfeln / Spürest Du / Kaum einen Hauch / Die Vögelein schweigen im Walde / Warte nur! Balde / Ruhest du auch.

Der Versuch, Sprache zu ergründen

Der Vorhang hebt sich, und das Gedicht verschwindet. Stattdessen wird der Blick frei auf eine silber glänzende Maschine. Sie besteht aus einer weiblichen Kontrollinstanz, gespielt von Sandra Gerling, und vier Speichern, die stufenförmig unterhalb von ihr angeordnet sind. Sie werden verkörpert durch vier Schauspieler mit Frisuren und Brillen in Siebziger-Jahre-Ästhetik. Speicher vier ist auf der untersten Stufe, ein Musiker, der die Vorgänge mit Geräuschen von seinem Soundboard begleitet. 

Die Kontrollinstanz gibt Kommandos, die die Speicher rasend und voller Ehrgeiz durchführen. In den folgenden 90 Minuten wird das Gedicht zerstückelt, ergänzt, verdreht – mit dem Versuch, die Sprache zu ergründen. Das heißt, die Maschine tut das. Denn das, was ein Wort vom anderen trennt, macht sein Wesen aus. Aber wie ist Kunst mithilfe der Technik fassbar?

Die Maschine kommt an ihre Grenzen

Umkehrung, Wortdoppelung, Apokopen (Ausfall des letzten Wortes des Verses) oder gar Wortersetzungen durch puren Zufall – das und mehr befiehlt die Kontrollinstanz. Was einfach beginnt, artet schnell aus. So sollen die Substantive etwa durch das 196. nächste Substantiv im Wörterbuch ersetzt werden. Die Maschine kommt an ihre Grenzen, die Speicher kommen im übertragenen Sinne ins Schwitzen – und die Schauspieler im Wörtlichen. Die Genauigkeit und Absurdität verlangt ihnen viel ab. Die Speicher werden nervös bei Fehlern im Betriebssystem und reagieren schockiert auf Überraschungen. 

Ironischerweise endet das Gedicht in diesem Fall nicht mit „Warte nur! Balde / Ruhest du auch.“ sondern mit „Warte nur! Balde / kommst du auch in die Krise.“ Daraufhin bleibt die ganze Maschine hängen, wiederholt die Krise immer wieder, ehe sie vom Speicher vier und einem Buzzer-Sound erlöst wird.

Kleine Männchen werkeln miteinander

Auf der Bühne spielt sich der Irrsinn ab, der geschieht, wenn Künstliche Intelligenz ohne gesunden Menschenverstand eingesetzt wird. Dargestellt durch die fast kindliche Vorstellung einer Maschine, in welcher kleine Männchen miteinander werkeln. 

Erstaunlich, dass Georges Perecs Hörspiel von 1968 genau solche Strukturen auf künstlerische Weise hinterfragt. Perec, ein französischer Autor, der besonders für seine experimentellen und sprachspielerischen Werke bekannt ist, war damals vor seiner Zeit, in der es noch keine KI gab. Heute wirkt der Text auf eine andere Art aktuell. 

Die Technik scheitert am Fühlen

Mit Arbeitsoverall und strubbeligem Haar brütet Yorck Dippe als Perec verkörpernder Schauspieler auf der Bühne über dem Goethe-Gedicht, mal erklärend, mal schweigend und rauchend. Gegen Ende analysiert er ambitioniert gemeinsam mit der Maschine den Text.

Trotz hochkomplexen Messgeräten in der Realität – oder hier auf der Bühne – scheitert die Technik am Fühlen. So wiederholen die Speicher voller Unbehagen die Verszeile „Spürest du“ oder ziehen das Wort in die Länge, Perec zeigt ähnliche Reaktionen.

Die Bühne dreht zwischen Maschine und kahler Landschaft hin und her und verbildlicht so den Gegensatz zwischen Maschine und Natur. Doch die Landschaftsszenen auf der Rückseite der Maschine schaden der schnellen, mitreißenden Formstrenge. 

Die Welt systematisieren, ordnen, greifen

Anita Vulesica weitet den Text in ihrer Inszenierung aus, schmückt ihn mit Unsinnigem und Absurdem, gestaltet ihn musikalischer und schneller als das ursprüngliche Hörspiel. Kontrolle und Speicher übersetzen, rappen, singen, wiederholen und ergänzen. Und sie interpretieren das Gedicht tänzerisch.

Plötzlich spuckt die Maschine abgehackt naturkundliche Beispiele aus. Berge und Wälder, sortiert nach Höhe und Größe oder Vögel, sortiert nach ihrer Art. Überall versucht die Maschine, die Welt zu systematisieren, zu ordnen, vielleicht auch greifen zu können. Trotzdem fallen hin und wieder Fische vom Bühnen-Himmel, oder auf eine Leinwand projizierte Wälder brennen im Hintergrund.

Einiges bleibt offen im Raum stehen

Ob das als Anspielung auf den riesigen Ressourcenverschleiß von Künstlicher Intelligenz zu verstehen ist, die Zufälligkeit der Natur adressiert oder die Unmöglichkeit, die Erde zu kontrollieren? Das alles bleibt offen im Raum stehen. So wird auch das deutsche Bürgertum und der Geniekult um Goethe angerissen, aber es bleibt leider bei wenigen Worten oder kurzen Bildern dazu. 

Der Drucker, der am Schluss auf einem meterlangen Papierstreifen etwa die Worte „Silence“ oder „Peace“ ausdruckt, bleibt für viele Zuschauende nichtssagend: Er ist so nah am Bühnenrand positioniert, dass der Ausdruck nur für manche sichtbar ist. 

Der Abend verliert an Tempo

Deutlich ist allerdings die Leistung der Schauspieler*innen. Die präzise Choreografie und die Umsetzung des Textes gelingt ihnen auf faszinierende Weise. Mit vollem Körpereinsatz fesseln sie das Publikum und bringen es oft dazu, laut zu lachen. Das Ensemble beherrscht die purzelnden Worte und umgekehrt. 

Obwohl es Spaß macht, den Spielenden zu zuschauen, verliert der Abend stark an Tempo und kann so nicht immer gleich gut überzeugen. Die Landschaftsszenen auf der Rückseite der Maschine bremsen die dynamische Absurdität der Anfangs-Szene aus. Es gelingt zwar, das Tempo durch Singen und Rappen auf der Maschinenseite wieder aufzubauen, am Schluss flacht es aber wieder ab. Viele Fragen bleiben offen, was etwas ziellos erscheint und einen ratlos hinterlässt.

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Lily Diemer

Lily Diemer (*2000) lebt in der Schweiz. In Bern studiert sie Germanistik und Theaterwissenschaft im Master – quasi Profi-Leseratte mit Bühnenfieber. Ansonsten arbeitet sie im Hintergrund von Theaterproduktionen und jongliert mit Worten, um Kleinstadt-Kolumnen für die Lokalzeitung zu schreiben. Die kleinen Dinge im Leben dokumentiert sie beruflich und privat: Sie sortiert Bücher nach Farben, sammelt Wörter und einsekündige Videos. Faszinierend findet sie die Kraft der Sprache und das, was entsteht, wenn Menschen im Theater zusammenkommen. Sie freut sich auf Theatergenuss in Berlin mit Kiba-Boost. Wer braucht schon Champagner in der Pause?

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