„Kein Mensch wollte über Theater schreiben“

Peter Kümmel war 25 Jahre Theaterkritiker der Wochenzeitung Die Zeit. Begegnung mit einem Ruhe ausstrahlenden Anti-Skandalisierer, der das Schreiben genießt

„Ich zieh mir mal die Schuhe aus“, sagt Peter Kümmel, als er sich zu uns, den fünf Autor*innen des TT-Blogs, an den Tisch setzt. Er macht es sich gemütlich. Während wir Blogger*innen alle zwischen 21 und 30 Jahre alt sind und gerade kulturjournalistische Erfahrungen sammeln, ist Kümmel seit fünf Tagen in Rente. Er strahlt eine Ruhe aus, wie wir sie seit Beginn unserer turbulenten Zeit beim Theatertreffen zwischen Vorstellungsbesuchen, Workshops, Kritiken schreiben und dem Kennenlernen neuer Menschen noch nicht erlebt haben.

Kümmels Biografie wirkt aus heutiger Sicht unglaubwürdig: „Ich bin in das Ganze reingerutscht. Ich hatte Lehramt studiert und habe dann gemerkt, dass man da keine Jobs kriegt und habe dann in der Lokalzeitung in Stuttgart angefangen. Im Kulturteil, denn kein Mensch wollte über Theater schreiben.“ Nach ersten Stationen bei den Stuttgarter Nachrichten und der Esslinger Zeitung schrieb Kümmel Texte für die Süddeutsche Zeitung und Theater heute. „Ich war gar kein Theatermensch und wurde es eigentlich erst durchs Schreiben.“ Ein unerwarteter Anruf führte dazu, dass Kümmel im Jahr 2000 nach Hamburg zog, um Theaterredakteur bei der Wochenzeitung Zeit zu werden. Diese Stelle hatte er 25 Jahre inne, bis zum Beginn seiner Rente vor ein paar Tagen: „Kein Aufstieg, kein Abstieg. Alle anderen veränderten sich dauernd, aber ich war zufrieden.“

Eine gute Kritik soll bildhaft sein

Theaterkritik ist für Kümmel eine eigenständige, literarische Form. Kritiker zu sein, bedeutet für ihn das Privileg, Augenzeuge zu sein und das einmalige Erlebnis einer Aufführung im Text festzuhalten und zu vergegenwärtigen. Text bleibt, Theater nicht. Theaterkritik ist für ihn „Tröstung“, indem das Unwiederholbare ein Stück weit bewahrt wird. Uns als jungen Journalist*innen rät er zu lesen – nicht nur Kritiken, sondern auch fiktionale Literatur. Eine gute Kritik soll Kümmel zufolge im literarischen Sinne bildhaft sein und die ganze Räumlichkeit einer Aufführung dreidimensional aus dem Text entfalten. So wie Robert Musils kurzer Text „Das Fliegenpapier“, der es für Kümmel schafft, Fliegen dreidimensional aus dem flachen Text herausragen zu lassen.

Die Kritikformen des Totalverrisses und der völligen Hymne interessieren Kümmel nicht: „Ich finde beides nicht glaubhaft, denn die Welt besteht nicht aus totalen Kunstwerken und völliger Scheiße, so ist das Leben nicht.“ Auf die Frage, ob er sich mal so richtig über Theater gestritten hätte, antwortet Kümmel: „Gestritten? Nee, eigentlich nicht, ich wüsste doch gar nicht mit wem.“ Kümmel ist kein Kritiker, der sich vor einer Hundekot-Attacke zu fürchten braucht. Er freut sich viel mehr darüber, wenn er durch das Schreiben über Theater auf etwas Neues kommt und sich und den Leser*innen neue Aspekte eines Theaterabends eröffnen kann.

Die Kritik zu „Bernarda Albas Haus“ bleibt ungeschrieben

Ein gewisser Funke ist nötig, damit Kümmel eine Kritik schreibt: „Wenn mich irgendwas völlig kalt lässt, dann kann ich auch nicht schreiben. Ich könnte über das Kaltgelassenwerden schreiben, aber das ist langweilig.“ So hat Kümmel beispielsweise die Eröffnungsproduktion des Berliner Theatertreffens „Bernarda Albas Haus“ am Schauspielhaus Hamburg gesehen, sich jedoch dazu entschieden, dass er bereits so viele Inszenierungen von Katie Mitchell gesehen und besprochen hat, dass er dieser nichts Neues hinzufügen kann. Kümmels Kritik zu „Bernarda Alba“ bleibt ungeschrieben.

Dieses Nicht-Schreiben von Kritiken ist eines der Privilegien, die Kümmel durch seine Festanstellung genoss. Seine Kolleg*innen sind alles andere als traurig, wenn Kümmel keinen Text schreibt, verrät er uns: Der Platz in gedruckten Zeitungen ist knapp, das Gerangel darum groß, Artikel zu veröffentlichen. Seine Festanstellung erlaubte Kümmel zudem mehr Recherchezeit und Platz für längere Artikel. Dabei machen Theaterkritiken nach seiner eigenen Angabe maximal 40 Prozent seines Geschriebenen aus. 

Mit dem Theaterblick auf die reale Welt schauen

Er mag es, den Theaterblick auf die reale Welt anzuwenden. Als er beispielsweise über Wahlkämpfe schrieb, interessierten Kümmel die Inszenierungsstrategien der Politiker*innen. Das Schreiben über andere Themen ermöglicht es Kümmel, sich den Theaterbesuch als Freude und Belohnung zu bewahren. Seine Arbeit als Theaterredakteur begreift er als Genuss und Privileg. Auch wenn Kümmel offiziell in Rente ist, möchte er weiterhin Artikel schreiben. Zum einen aus finanziellen Gründen, weil die Rente, wie er sagt, „eine deutsche Rente ist“ und er vier Kinder hat, die noch in Ausbildung sind. Zum anderen, weil er das Schreiben einfach genieße: „Es ist eine der tollsten Sachen, die man machen kann.“ 

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Ole Zeitler

Ole Zeitler wurde 2002 im thüringischen Altenburg geboren. Im Alter von sechs Jahren zog ihn das glamouröse Glitzerkleid der Königin der Nacht in den anhaltenden Bann magischer Theaterwelten. Während seines Bachelors in Kulturwissenschaft und Deutscher Literatur in Berlin arbeitete er im Abenddienst der Staatsoper und wurde zum Opernnerd. Aktuell studiert er in Wien Kunst- und Kulturwissenschaften und schreibt (Musik-)Theaterkritiken für das junge Kulturmagazin Bohema. Er begeistert sich für Inszenierungen, die Genregrenzen überschreiten und die Widersprüche des Lebens spürbar machen.

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