Das Internationale Forum gibt aufstrebenden Theatermacher*innen eine Möglichkeit, das Theatertreffen zu besuchen und ganz eng in den Kontakt mit den Stücken, Stoffen und anderen Theatermenschen zu kommen. Dafür werden Theatermacher*innen aus aller Welt eingeladen, Workshops zu besuchen, gemeinsam Theater zu schauen und sich darüber auszutauschen. Das Programm dauert zwei Wochen und soll neue Perspektiven auf weltweites Theater schaffen. Eine „Initialzündung für Kollaborationen“ unter den Regisseur*innen, Performancekünstler*innen, Dramaturg*innen, Autor*innen, Schauspieler*innen und Tanzenden aus verschiedenen Regionen. Das Forum nennt sich selbst die „Nachwuchs-, Vernetzungs- und Empowerment-Plattform des Theatertreffens“.
Als Nachwuchsjournalistin für das Theatertreffen-Blog darf ich das Internationale Forum für einen Tag begleiten. Die Workshops finden in den Ufer-Studios statt, einem ehemaligen Straßenbahndepot, das in ein Kreativquartier verwandelt wurde.
Ein Aufwärmspiel zu Tagesbeginn
Die Sonne scheint. Ich stehe auf einem von einer roten Backsteinmauer umgebenen Platz und blicke durch ein zusammengerolltes Papier. In dem kleinen, kreisrunden Ausschnitt sehe ich violett durchsichtige Plastikfolie. Sie weht im Wind. Wenn ich lange genug hinsehe, wird dieser Kreis zu meiner ganzen Welt.
Ich richte mein Fernrohr auf den Himmel und ergattere nur einen winzigen Teil. Dann lege ich es ab und sehe all die Menschen um mich herum. Wie alle in ihre eigenen kleinen Welten blicken und doch gemeinsam hier sind und eine große Welt teilen.

Die Stipendiat*innen des Internationalen Forums stehen für das Aufwärmspiel zu Beginn des Tages im Hof der Ufer-Studios. Wir sollen uns alle ein Papier nehmen und ein Fernrohr daraus rollen. „Find little worlds, like a scene”, sagt die Leiterin des Spieles, “really get to know it, you need to be looking at it to understand it”. Wir sollen Titel für unsere kleine Welt, unsere Szene finden. Dann gehen wir zu zweit zusammen, halten uns an den Händen und zeigen uns die gefundenen Szenenbilder.
33 Stipendiat*innen des diesjährigen Forums schauen durch ihre selbstgebauten Fernrohre, kommen aus über 15 Ländern hier zusammen, um sich gegenseitig zu zeigen, wie ihre Welt aussieht, wie sie Theater sehen und verstehen und wie sie Theater machen.
Unterschiedliche Workshops
Gestern habe ich die Menschen des Internationalen Forums zum ersten Mal kennengelernt. Nach der gemeinsam besuchten Vorstellung von „Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh“ stehe ich mit den Teilnehmer*innen in einem Kreis auf dem Rasen neben dem Haus der Berliner Festspiele. Es ist schon länger dunkel und mittlerweile kalt geworden. In mehreren Runden sagt jede und jeder etwas zu der eben erlebten Inszenierung. Sie teilen, was für sie jeweils funktioniert oder gefehlt hat. Eine schöne Idee, aber die Teilnehmer*innen schaukeln sich gegenseitig hoch, nachdem das erste mal Kritik aufkommt.
Am nächsten Morgen, nach der Aufführung, stehen alle wieder im Kreis. Gemeinsam wird über die sogenannte „Check-Out Runde“ von gestern gesprochen und darüber, wie diese produktiver gestaltet werden könnte. Zum Beispiel könnte man die Gruppe teilen oder das Gespräch an einen gemütlicheren Ort versetzen. In einem kurzen Plenum wird mitgeteilt, welche Gruppe heute für die Anderen kocht. Es gibt Spaghetti mit Tomatensoße. Dann begeben sie sich in die Räume für die drei verschiedenen Workshops. In einem wird getanzt, ein anderer Workshop beschäftigt sich mit der Entwicklung interaktiver und neuer Formate wie Meditation oder Experimente mit Sound. Der dritte Workshop, den ich besuche, soll sich mit Regeln, Grenzen und gesellschaftlichen Prinzipien auseinandersetzen.
Wie hat sich der Tag gestern angefühlt?
Ich bin in der Workshop-Gruppe von Wang Chong, Alumni des Internationalen Forums. Er bittet uns, nochmals in einen Kreis zu kommen. Wir befinden uns in einer schwimmbeckenartigen Absenkung in der Mitte eines Raumes, die von einem Geländer umgeben ist. Die großen Treppenstufen tragen Polster, und die Wände des Beckens sind weiß gefliest. In einer Ecke liegen Sitzsäcke und einige Teilnehmer*innen ziehen ihre Schuhe aus.
Als erste Übung soll gezeigt werden, wie sich der gestrige Tag angefühlt hat. Die erste Person beginnt, dreht langsam Kreise um die Anderen. Ganz nah und behutsam läuft sie um ihre Mitmenschen herum. Eine andere Teilnehmerin trägt ein arabisches Gedicht vor. Jemand legt sich in die Mitte und macht die Augen zu. Menschen kommen dazu, schmiegen sich an, werden eine gemeinsame Form.
Von Träumen erzählen
Im Raum liegt ein alles einhüllendes Grundvertrauen, in der Zärtlichkeit eine ungreifbare Ruhe und Konzentration. Ein leeres Becken mit Parkettboden, gefüllt mit schönen, langsamen Gedanken und Wertschätzung für die Körper und Anwesenheit der Anderen. Die Menschen sind nicht nur zur gleichen Zeit im selben Raum, sie sind wirklich miteinander dort.
Ein Performancekünstler aus Thailand erzählt von seinem Traum. Dass er seine Zehen berühren konnte, auch wenn ihm das in Wirklichkeit noch nie gelungen ist. Die Teilnehmer*innen stellen sich zu ihm, helfen ihm, mit verschiedenen Übungen tatsächlich seine Zehen zu berühren. Gemeinsam erreichen sie mit den Fingerspitzen den Boden. Zu sehen, wie alle den gemeinsam verbrachten Tag in ganz unterschiedlichen Bildern und Geschichten erlebt haben, zeigt, wie perspektivenreich die Gruppe ist.
Mit geschlossenen Augen über das Stück sprechen
Wir sprechen über das Stück, aber nicht im großen Kreis wie gestern, sondern mit geschlossenen Augen und zu zweit oder zu dritt. In dem abgesenkten Viereck bewegen sich die Teilnehmer*innen aufeinander zu. Sie berühren einander, hören einander. Jemand steht allein im Raum, hört zwei anderen Menschen zu, oder sucht eine Unterhaltung, der man sich anschließen könnte. Die Teilnehmer*innen nehmen sich an den Hände, sprechen ganz behutsam und hören einander zu.
In der eigenen Dunkelheit nur auf die Stimme einer Person zu hören, fühlt sich intim an. Ich stehe wackelig auf Sockenfüßen, aber mit der Sicherheit, den anderen Menschen wirklich wahrnehmen zu können, auch wenn ich ihn nicht sehe. Ihn atmen zu hören, zu riechen und wirklich zu verstehen, was er sagt. Der Raum wird undefinierbar groß, und ich kann nur hören, wo jemand geht, spüren, wo jemand ist – mit geschlossenen Augen eine halbe Stunde lang durch Stimmen waten.
Das Verrückteste, das man je getan hat
Im Vergleich zu der “Check-Out Runde” gestern, darf man still sein, ohne aufzufallen. „I expanded my relationship to the play”, sagt eine Teilnehmerin nach der Übung. Zwei Menschen bleiben noch ein paar Minuten länger stehen, unterhalten sich weiter mit geschlossenen Augen und merken gar nicht, dass die Übung schon beendet ist.
Nach einer kurzen Pause kommt die nächste Aufgabe. Wir sollen aufschreiben, was das Verrückteste ist, das wir je getan haben. Das Verrückteste überhaupt. Nach fünf Minuten sollen die Teilnehmer*innen das, was aufgeschrieben wurde, in einer Performance verarbeiten und dabei den Raum auf besondere Art und Weise nutzen.
Balancieren auf dem Dach
Wir gehen zurück auf den von Backsteinmauern umgebenen Platz. Die erste Performance beginnt. Jemand klettert eine Feuerleiter hinauf und steht auf dem Dach des Fabrikgebäudes. Wir stehen im Hof und blicken hinauf. Der Mann beginnt zu tanzen, auf dem Dach zu balancieren. Wir klatschen. Die nächste Person nimmt uns mit in ein Gebüsch und erzählt eine Geschichte von ihrer Schwester und einer Schlange. Bei der dritten Performance kommt jemand und unterbricht den Performancekünstler dabei, wie er auf einer der Außenmauern entlang gehen möchte, weil das zu gefährlich sei. Workshopleiter Wang Chong findet das gar nicht so schlimm, erklärt er später. Obwohl dadurch die Vorstellung gestoppt wurde, schaffe das Unterbrochenwerden eine ganz neue, eigene Performance.
Bevor der Nächste ein Dach betritt, warten wir, bis uns niemand mehr zusieht. Wir starren auf die Mauer, in die Baumkronen, bis auf einmal jemand auf dem Dach auftaucht und mit einem Besen Staub und Blätter vom Dach regnen lässt. Dazu hören wir Musik aus seinem Handy, das er uns zuwirft.
Gebannt sehen wir zu. Gemeinsam. Das Internationale Forum ist nicht nur ein Ort zur Weiterentwicklung von Theaterkonzepten, es ist ein Raum für Menschen, um zusammen zu kommen und gemeinsam zu erleben, wie schön Unterschiede sein können.