Plädoyer für das politische Theater

Biographisches Theater ist beliebt. Doch kann die individuelle Perspektive einen utopischen Raum eröffnen, an dem wir über ein anderes Zusammenleben nachdenken?

Das biographische Theater hat in den letzten Jahren gesellschaftlichen Positionen einen Raum gegeben, die auf deutschsprachigen Bühnen lange nicht vorkamen. Durch das Erzählen von Lebensgeschichten, die nicht der Mehrheitsgesellschaft angehören, werden marginalisierte Perspektiven sichtbar gemacht. Endlich werden Menschen auf Bühnen repräsentiert, die vorher im öffentlichen Diskurs oftmals wenig Raum bekommen haben und über die meistens gesprochen wurde, statt dass sie selbst sprechen.

Gelungene Beispiele dafür sind „Ugly Duckling“ aus dem Jahr 2019 von Bastian Kraft am Deutschen Theater Berlin oder „Unser Deutschlandmärchen“ aus dem Jahr 2024 von Hakan Savaş Mican am Maxim Gorki Theater Berlin. In „Ugly Duckling“ werden queere Geschichten erzählt und die Drag-Kultur auf die Bühne geholt. In „Unser Deutschlandmärchen“ führt Hakan Savaş Mican den erfolgreichen Weg des postmigrantischen Theaters am Gorki weiter und dramatisiert den autosoziobiographischen Roman von Dinçer Güçyeter, was dieses Jahr  auch beim Theatertreffen zu sehen ist. Wer eine Vorstellung solcher Stücke besucht, dem fällt schnell auf, dass das Publikum deutlich durchmischter ist als bei der klassischen Schiller-Inszenierung. Die Theater gehen so ihrem öffentlichen Auftrag nach, Kulturangebote für die gesamte Gesellschaft anzubieten.

Ist alles gut, wenn alle repräsentiert werden?

Ein Problem, das regelmäßige Theaterbesucher*innen vielleicht auch entdeckt haben, ist die Abnutzung des Effekts, den das Erleben einer persönlichen Geschichte auslöst. Beim ersten Schauen beeindruckt das Persönliche und die Intensität einer (fast) wahren Geschichte. Je öfter man solche Stücke schaut, desto mehr gewöhnt man sich an diesen Effekt und es wird zunehmend vorhersehbar, zumindest auf der ästhetischen und dramaturgischen Ebene. Das Einzige, was dann noch Eindruck hinterlässt, ist der Inhalt selbst. Das theatrale Erlebnis bleibt dabei schmerzlich zu kurz.

Zudem läuft das biographische Theater Gefahr, dass durch die Repräsentation aktueller politischer Probleme Strukturen reproduziert, beziehungsweise der öffentliche Diskurs wiederholt wird (der klassischen Kanon erst!). In „In my Room“ von Falk Richter aus dem Jahr 2020 wird sich beispielsweise biographisch mit den eigenen Männlichkeitserfahrungen und den Beziehungen zu ihren Vätern auseinandergesetzt. Die Zwei-Geschlechter-Ordnung wird dabei aber nicht angegriffen und somit reproduziert. Doch wie kann das politische Theater die Reproduktion problematischer bestehender gesellschaftlicher Diskurse und ihrer Strukturen vermeiden?

Die politische Wirkung von Theater in der Ausnahme

Der mittlerweile verstorbene Postdramatik-Theoretiker Hans-Thies Lehmann kritisierte in seinem 2002 erschienenen Essay „Wie politisch ist Postdramatisches Theater? Warum das Politische im Theater nur die Unterbrechung des Politischen sein kann“ die Vorstellung, dass das Theater ein „Hilfs-Institut politischer Bildung“ ist. Das Ziel des Theaters müsse es sein, das Politische dort aufzuspüren, wo es normalerweise gar nicht wahrgenommen wird.  Lehmann sah die politische Wirkung des Theaters fernab der Intention in der Ausnahme – wenn das Regelhafte unterbrochen wird, werden Regeln sichtbar. Er forderte, dass das Theater die Voraussetzung des eigenen Urteils durch die Unterbrechung des Regelhaften erlebbar machen soll und somit die Wirklichkeit unmöglich wird.

Das ist etwas, dass das biographische Theater wirklich nicht tut. Durch das Erzählen der eigenen, möglicherweise leicht fiktionalisierten Lebensgeschichte werden die Umstände, in denen das Leben bisher stattgefunden hat, zwangsläufig reproduziert. Es bleibt eine Bestandsaufnahme.

Ein Regisseur und Autor, dessen Theater an Lehmanns Ideen erinnert und der dieses Jahr mit „ja nichts ist ok“ zum letzten Mal beim Theatertreffen dabei ist, ist der verstorbene René Pollesch. Pollesch ist ein Student von Lehmann gewesen und hat in seinen Stücken die Wahrnehmung der Realität hinterfragt. Dafür wurde jede Situation, ob zwischenmenschlich wie die Liebe, oder ökonomisch wie der Wohnungsmarkt, als Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses dargestellt. Die Liebe war bei Pollesch nie nur ein Gefühl, sondern auch eine Ware, die sozial konstruiert ist – und damit ökonomisch geprägt ist. Die gesellschaftlichen Regeln des Zusammenlebens werden aufgezeigt, was ihn mit Bertolt Brecht verbindet – Brechts Text „Die Gewehre der Frau Carrar“ in Regie von Luise Voigt ist dieses Jahr auch in Berlin dabei.

Pollesch und Hinrichs dekonstruieren zusammen

In dem 2012 zum Theatertreffen eingeladenen „Kill your Darlings! Streets of Berladelphia“ verbinden René Pollesch und der Schauspieler Fabian Hinrichs die Erwartungen an das Individuum der flexibilisierten Arbeitswelt und den daraus entstehenden Konflikt mit Liebesbeziehungen. Die Liebe muss scheitern, denn die flexible Verfügbarkeit in den Netzwerken des Arbeitslebens ist wichtiger. Das eigene Verständnis von Liebe als ein pures Gefühl, dass aus einem unkontrollierbaren Impuls heraus entsteht, wird dekonstruiert. Und in der Unterbrechung des Regelhaften zeigt sich das politische Potenzial von Theater.

Das Hinterfragen biographischer Erzählungen kann sich lohnen. Ich bin überzeugt, dass das Nachdenken über die Welt auf der Bühne ohne eine individualisierende Denkweise neue Perspektiven auf unser Zusammenleben bietet. Theater hat die Fähigkeit, über Neues, Utopisches nachzudenken. Lasst uns das nutzen. Nun ja, auf nach Berlin. Pollesch/Hinrichs und Brecht/Voigt beim Theatertreffen dabei zu sehen, wie sie die Realität zum Schwanken bringen!

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Tim Wedell

Tim Wedell (er/they), geboren in Bremen, beendete im April sein Studium der Deutschen Literatur und Sozialwissenschaften in Berlin mit einer Bachelorarbeit über theatrale Selbstreflexion und die Inszenierung des Liebesdiskurses bei René Pollesch. Parallel zum Studium absolvierte er Dramaturgie- und Regiehospitanzen am Maxim Gorki Theater und dem Berliner Ensemble bei Leonie Böhm, Sebastian Nübling und Robert Borgmann. Zudem ist er seit 2024 Autor bei der jungen bühne. 2025 werden erste eigene Regiearbeiten mit dem Kollektiv Toni Timke folgen. Sein Interesse gilt dabei insbesondere dem politischen Theater und dem Versuch, über die Welt fernab individueller Perspektiven nachzudenken.

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