An einem endlich mal halbwegs warmen Dienstagmorgen treffen wir, die Blogger*innen des Theatertreffens, den Autor Dinçer Güçyeter. Er hat die Romanvorlage zur Inszenierung „Unser Deutschlandmärchen” des Maxim-Gorki-Theaters geschrieben. Dinçer bietet uns direkt das du an. Er spricht mit weicher Stimme, schaut einem beim Sprechen in die Augen, nennt einen häufig beiläufig, aber ausdrücklich beim Vornamen, was direkt eine Nähe im Gespräch erzeugt. Seine Antworten sind lang und ausschweifend, auch wenn er immer wieder zum Kern der Frage zurückkehrt. Fast, als würde Dinçer allein schon in diesem Gespräch eine Geschichte erzählen.
Er lässt uns an seinen Gedanken und Widersprüchlichkeiten teilhaben, gleichzeitig bleibt er in einer gewissen Art ambivalent, die manchmal etwas ungreifbar und unangreifbar wirkt. Am Ende entschuldigt er sich für seine langen Antworten, dabei macht es viel Spaß ihm zuzuhören. Mit einer Kippe in der Hand erläutert er später im Garten der Berliner Festspiele, seine Antworten wären nicht gerade, denn das Leben wäre es auch nicht. Klingt einleuchtend.
Die besten Kiff-Oasen
Dinçer Güçyeter wurde 1979 in Nettetal geboren, direkt an der niederländischen Grenze: „Da waren die besten Kiff-Oasen”, sagt er lachend. 2000 schloss er eine Ausbildung als Werkzeugmechaniker ab. Eine Karriere als Autor wäre nie geplant gewesen, „aber es hat sich ein bisschen anders entwickelt.” Und ob es das hat. Dinçer veröffentlichte bereits mehrere Gedichtbände, zuletzt „Mein Prinz, ich bin das Ghetto”, mit dem er 2022 mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde.
2022 folgte „Unser Deutschlandmärchen”, ein autofiktionaler Roman. „Es ist kein Roman”, korrigiert mich Dinçer. „Es sind Texte, es ist ein Text, man kann es auch als Collage sehen. Meine Verlegerin schrieb mir damals, wir klatschen ‚Roman’ drauf, dann verkauft sich das besser.” Für diese „Texte” erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse. Es folgten viele Anfragen, so auch zu Dramatisierungen, wie die Inszenierung im Maxim-Gorki-Thater, die dieses Jahr zum Theatertreffen 25 eingeladen wurde. 2012 gründete Dinçer zudem den ELIF Verlag, denn das kollektive, gemeinsame Arbeiten läge ihm nahe: „Weil beim Schreiben ist man schon einsam.”
Suche nach Aufmerksamkeit
Wie Dinçer zum Schreiben gekommen ist? „Manchmal denke ich, es ist ja auch etwas Angeborenes.“ Schon als Kind in der Kneipe seines Vaters habe ihn das Gefühl begleitet, ein Dichter zu sein: „Und das ist ein krankes Gefühl.” Er fügt hinzu: „Lady Gaga hat es ja auch so formuliert: ‚Ich war immer schon ein Popstar, nur wusste das niemand’, bei mir war es, glaube ich, auch ein bisschen so”, sagt er mit Augenzwinkern.
Er habe Aufmerksamkeit gewollt, und der Rest sei egal gewesen: „Ich wollte unbedingt raus, ich wollte Applaus. Was der Grund dafür ist, darauf habe ich leider immer noch keine Antwort, da müsste ich mal so eine Psychoanalyse machen.” Offen gibt er zu: „Aber es hat wirklich sehr lange gedauert, bis ich meine eigene Stimme gefunden habe.”
Er versteht sich nicht als Sprachrohr
Die eigene Stimme und gleichzeitig eine authentische Sprache für die Erfahrungen von Gastarbeiterinnen wie seiner Mutter und ihren Kolleginnen finden, die in den Sechziger Jahren nach Deutschland kamen, sei auch beim Schreiben von „Unser Deutschlandmärchen” eine besondere Herausforderung für ihn gewesen: „Wie kann man, ohne die Stimmen dieser Frauen zu verschleiern, mit heutiger Sprache, diesen Ausdruck, diesen Rhythmus, diesen Ton finden? Wie kann man das alles zusammenbringen?”, seien Fragen gewesen, die ihn umgetrieben hätten. „Ich wollte die Figur meiner Mutter nicht als wehleidiges Wesen darstellen oder als Opfer. Die erste Generation hat sehr viel bewegt in diesem Land. Die haben Tag und Nacht gearbeitet. Für mich waren es starke Menschen.”
Im Gespräch mit uns wirkt Dinçers Position zu seiner vermeintlich repräsentativen Stimme einer türkischen postmigrantischen Generation ambivalent. So betont er mehrfach, er würde gerne einfach eine Geschichte erzählen, verstehe sich nicht als Sprachrohr: Goethe habe ,Die Leiden des Jungen Werther’ geschrieben, und der Werdegang Werthers ähnele auch dem von Goethe: „Warum nennt man Goethe jetzt ganz große Literatur, aber der Werdegang von Dinçer ist eine private Geschichte?” Er sei oft mit identitätspolitischen Fragen konfrontiert worden, anstatt dass man sich mit seiner Sprache und Literatur auseinandergesetzt habe.
Die Mutter hat sich auf der Bühne wie Merkel gefühlt
Trotzdem sei es ihm auch um Aufmerksamkeit für Perspektiven und Geschichten gegangen, die einen Teil der deutschen Geschichte abbilden, aber lange mehrheitsgesellschaftlich nicht erzählt worden seien. Es gehe ihm darum, auf die Menschen jenseits ihres Wertes als Arbeitskraft zu schauen, Lebensweisen, Arbeitsbedingungen und Gefühle sichtbar zu machen.
„Dass der Blick mal in die Vergangenheit gerichtet wurde, dass meine Mutter auf der Bühne stand im Maxim-Gorki-Theater, und 700 Leute haben applaudiert, selbst dafür hat es sich gelohnt.” Er fügt hinzu: „Das ist die einfachste Art und Weise, es zu erklären. Meine Mutter hat sich irgendwie wie Angela Merkel gefühlt, und mein Bruder hat mir dann gesagt, du hast eine Wunde von ihr geheilt.” Es ginge ihm darum, dass Menschen sich mit ihren eigenen Wunden beschäftigen können und “schauen, wo es blutet” – man könnte sagen: es geht ihm auch um Heilung. Er sagt: „Ihr könnt die besten Preise und das ganze Geld auf eine Seite legen und die Wunde dieser Menschen auf die andere Seite. Diese Wunde hat für mich viel mehr Bedeutung.”
Kein politisches Stück daraus machen
In der Theateradaption die Stärke seiner Mutter und ihrer Kolleginnen zu betonen, sei für ihn in der Inszenierung von Hakan Savaş Mican wichtig gewesen. Außerdem wollte Dinçer einen Generationskonflikt zwischen ihm und seiner Mutter in Bezug auf das Verhältnis zu Deutschland thematisieren, das heißt eine Art Diktat der ersten Generation gegenüber der jüngeren, gefälligst dankbar für ihr Leben in Deutschland zu sein. Während dies bei Dinçer auf Unverständnis für die Angepasstheit seiner Mutter traf.
Er beschreibt die Zusammenarbeit mit Mican als vertrauensvoll: „Schon im ersten Gespräch mit Hakan hatte ich das Gefühl, der Text ist in richtigen Händen.” Er sei auch nach Nettetal gekommen und habe unter vier Augen mit seiner Mutter gesprochen. Mican habe den Fokus in der Inszenierung von „Unser Deutschlandmärchen” auf den Werdegang eines jungen migrantischen Autors setzen und kein konkret politisches Stück daraus machen wollen. Ohne dass das Stück dadurch weniger politisch sei, betont Dinçer. Es ginge auch darum zu zeigen, wie schwer es für einen jungen Menschen wie ihn sein konnte, in der Literaturszene akzeptiert zu werden. Er berichtet: „Hakan sagte zu mir: ‚Dinçer, es gibt so, so viele politische Stücke gerade, also besonders von Autor*innen mit migrantischem Hintergrund, lass uns was anderes machen.’” Das sei auch sehr in Dinçers Interesse gewesen.
Berühren, nicht belehren
Einer der einzigen Wünsche an das Theater-Team sei gewesen, dass das Wort ‚Nazi’ nicht auf der Bühne verwendet wird, auch wenn es im Roman vorkommt. Er versuche differenzierter und distanzierter zu analysieren, denn es gebe gerade genug Spaltung in der Gesellschaft: “Leute, ich will nicht belehren, ich möchte berühren.” Das hat er geschafft, im Stück, sowie im Gespräch mit uns. Dinçer erzählt uns, wie er als Kind mit dem Lesen begann, in eine Buchhandlung ging und zum Verkäufer sagte: “Ich bin heute etwas melancholisch, geben Sie mir etwas mit, das mich tröstet.” Er bekam Hermann Hesse, Else Lasker-Schüler, Anna Achmatova. Als ganz persönliche Stellungnahme zum Schluss: Man kann für dieses Land hoffen, dass wenn man heute und in 50 Jahren eine Buchhandlung betritt und ähnliches anfordert, Dinçer Güçyeters Bücher auch zu denen gehören, die man in die Hand gedrückt bekommt.