Schauerliche Ich-Collage

Jan Friedrich ist mit "Blutbuch" erstmals zum Theatertreffen eingeladen. Seine Inszenierung ist überraschend, nah am Text und trotzdem eigenständig.

Grossmeer starrt ins Publikum. Weiß gekleidet, weiß geschminkt, wie ein Geist. Dahinter erscheinen die Schauspieler*innen auf einem Podest, im Preisverleihungs-Outfit von Kim de l’Horizon beim Deutschen Buchpreis 2022 – Glitzerrock und grünes Flauschtop. Auch das Lied „Nightcall“ von Kavinsky, das im Laufe der Inszenierung gespielt wird, erinnert an den Buchpreis-Abend. 

Die Musik führt das Publikum durch die schweren Texte. Von leisen Gitarrenklängen, über pulsierenden Techno, sweeten Pop bis zu Acapella-Gesängen legt sich die Audiospur sanft über den Abend, der schwere Themen verhandelt: Wie soll mensch Ungesagtes aussprechen? Die Nicht-Binarität, Genderfluidität, die schmerzenden Familientraumata und die tiefe Verstrickung in Klassismus, Rassismus und Kapitalismus? Die Inszenierung findet einen Weg.

Herrlich überspitzte Soundeffekte

Durch den Faden-Vorhang im Hintergrund lässt sich ein Wohnzimmer erahnen, ehe schwarz-weiße Videos darauf projiziert werden. Eintauchen in Nahaufnahmen von Grossmeers Händen, vom Französischen ins Schweizerdeutsche abgeleitet für Grossmutter,  gespielt von Iris Albrecht. Die Erinnerungen werden begleitet von schrecklich lauten, herrlich überspitzten Soundeffekten, wenn sie in viel zu hartes Brot beißt. 

Erhaben von der Decke baumelnd hängt ganz in rot Oktay Önder als Blutbuche. Sie wurde zur Geburt für die Grossmeer im Garten gepflanzt und spendete später Kim Zuflucht. Tänzerisch und ausladend schlägt sie Wurzelfüße und Wurzelhände übereinander und nimmt dabei eine Erzählerfigur ein. Gleichzeitig ist das Kind in seiner Blutbuchigen-Bunthaftigkeit von knallrot und blau mit den zahlreichen Requisiten aus Badezimmer oder Küche beschäftigt, übt Frau und Mann spielen, um seine eigene Geschlechtlichkeit zu finden. Bald soll sich das Kind entscheiden, ob es Bueb oder Meitschi sei.

Fünf Bühnen-Ästhetiken, fünf Romanteile

Die vor Energie strotzende Inszenierung von Jan Friedrich passt zum Text Kim de l’Horizons. Die Kraft der fünf Bühnenästhetiken, die genauso unterschiedlich sind wie die fünf Teile des autofiktionalen Romans, zeigen Friedrichs Leidenschaft für den Text auf. Die Farbgebung der Inszenierung mit rot und blau erinnert ans Buchcover. Und obwohl die Inszenierung nah am Text ist, funktioniert sie auch eigenständig auf der Bühne. Als grelle, fantasievoll-märchenhafte und schmerzhafte Collage. 

Grotesk werden die schreiende Grossmeer und die zur Eishexe verwandelte Meer inszeniert, die das verängstigte Kind zu beruhigen hat, herzzerreißend gespielt von Carmen Steinert. Es muss tapfer sein, sich in diesen durch märchenhafte Symbolik aufgeladenen Szenen zu behaupten.

Das Publikum wird direkt angesprochen

Marcel Jacqueline Gisdol als eine der Kim-Figuren spricht im Bühnenraum direkt das Publikum an, wie das eigene Körperbewusstsein zurückerlangt werden kann, nachdem der Kinderkörper so lange Platz für „Ausrangiertes“ war und als Ablagefläche für Unangenehmes gedient hat. Durch die direkte Ansprache wird die abstrakte Darstellung der alptraumhaften Szenen durchbrochen. 

Ähnlich zu sehen war dieser Mechanismus in „Blutstück“, der Zürcher Inszenierung von Leonie Böhm 2024. Dort bat Kim de l’Horizon selbst in den Publikumsreihen um Hilfe und Solidarität bei queerfeindlichen Angriffen im öffentlichen Raum. In Böhms Inszenierung war der Fokus aber weiter weg vom Text, vielmehr auf dem Genderfluiden, dem Fließenden und dem Gefühl, das der Roman auslöst. Die Nahbarkeit schafft es aber bei beiden, nach rauschhaften, farbigen Szenen wieder die Brücke zum Publikum zu schlagen. Bei Friedrich gibt es aber weniger Interpretationsspielraum. Die Inszenierung zeigt und erklärt viel und nimmt so Menschen gut mit, die noch keinen Zugang zum Thema Genderzugehörigkeit haben.

Ein Tanz mit der Kamera

Durch die Rastlosigkeit der spielenden Kims und der drängenden Musik im Hintergrund nimmt das Tempo dort an Fahrt auf, wo im Roman der Erzählgestus ausufernd wird. Die Worte erwachen durch ihre Bildhaftigkeit zum Leben, voller Rhythmus und Wucht.

Rasend folgen kulturhistorische Einordnungen dem Selbsteingeständnis des Träumens von Übermännlichkeit. Das Publikum folgt – wieder via Projektion – einem Tanz durch die szenischen Fragmente ohne linearen Handlungsstrang, der sich hinter dem Faden-Vorhang im Halbverborgenen abspielt: Ein Tanz mit der Kamera, präzise choreografiert, mit unzähligen Requisiten, Perspektiven und Abläufen. Es ist ein riesiger Spaß, dem Gewimmel zu folgen. 

Das Schweigen wurde gebrochen

Und plötzlich wird auch das unterbrochen. Ruhe und Ernsthaftigkeit. Dass nationalsozialistisches Gedankengut versteckt in ökologischer Fachliteratur in Schweizer Universitätsbibliotheken zu finden ist, oder dass die Schwester der Grossmeer, Irma, vom eigenen Vater vergewaltigt und ins Frauengefängnis Hindelbank gebracht wurde, wird wie vieles nur am Rand erwähnt. Die Nüchternheit ist erschlagend und bleibt im Raum stehen. Das Schweigen wurde gebrochen.  

Nach kindlichen Zaubersprüchen, politischen Kommentaren und vulgärer Sprache, Schreien, Ausrufen und Telefonaten mit der Meer steht kathartisch die Gemeinschaft im Zentrum. Während die letzten Texte zur endgültigen Selbstermächtigung in der neuen, für de l’Horizon unvoreingenommen englischen Sprache vorgetragen werden, tanzen die Schauspieler*innen miteinander. Sie singen dabei Austras Lied „Lose It“, besingen mit „Don’t wanna lose you“ die Grossmeer, die Meer, die Liebsten.

Englische, projizierte Texte

Jan Friedrichs Inszenierung und das Theater Magdeburg sind mit dieser schnellen und überraschenden Inszenierung erstmals zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Sie fordern ihr Publikum, lösen Gelächter und Tränen aus, abwechslungsweise oder gleichzeitig. Beim Schlussapplaus strahlen der Regisseur und das Ensemble, und ich auch. Das letzte Bild auf der Bühne sind die englischen, projizierten Texte auf die Faden-Vorhänge und das Tanzfest der singenden Kim-Figuren im Hintergrund. Sie fangen tanzend das aufgewühlte Publikum wie mit einer sanften Umarmung auf. Schönheit und Schmerz, so nah beieinander. Das letzte Puzzle-Stück im farbigen, detailliebenden Mosaik dieses Abends. 

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Lily Diemer

Lily Diemer (*2000) lebt in der Schweiz. In Bern studiert sie Germanistik und Theaterwissenschaft im Master – quasi Profi-Leseratte mit Bühnenfieber. Ansonsten arbeitet sie im Hintergrund von Theaterproduktionen und jongliert mit Worten, um Kleinstadt-Kolumnen für die Lokalzeitung zu schreiben. Die kleinen Dinge im Leben dokumentiert sie beruflich und privat: Sie sortiert Bücher nach Farben, sammelt Wörter und einsekündige Videos. Faszinierend findet sie die Kraft der Sprache und das, was entsteht, wenn Menschen im Theater zusammenkommen. Sie freut sich auf Theatergenuss in Berlin mit Kiba-Boost. Wer braucht schon Champagner in der Pause?

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