Verschiebung der Schockgrenze

In Florentina Holzingers Opernperformance „SANCTA“ geht die Suche nach einer befreiten, schamlosen weiblichen Identität mit der Suche nach einer befreiten, schamlosen Form des Theaters einher.

„Suche Karte“ steht auf den Pappschildern der Menschen, die vor Beginn von Florentina Holzingers religionskritischer Opernperformance „SANCTA“ auf dem Rosa-Luxemburg-Platz vor der Volksbühne stehen. Bereits zur Premiere 2024 am Mecklenburgischen Staatstheater pilgerte eine Vielzahl an Holzinger-Fans und Kritiker*innen nach Schwerin. Nachdem bei der Stuttgarter Premiere im vergangenen Herbst mehrere Personen aus dem Publikum notärztlich betreut werden mussten, wurde das Stück durch Schlagzeilen wie „Sex-Szenen schocken Opern-Publikum“ oder „In der Oper gewesen, gekotzt“ zum Theaterskandal des Jahres verklärt. Seitdem ist die Nachfrage noch größer, die Karten noch umkämpfter.

Dabei scheint der Saal der Volksbühne, sonst bekannt als postdramatisches Experimentierfeld, auf den ersten Blick in ein klassisches Opernhaus verwandelt worden zu sein: Im Graben vor dem roten Samtvorhang stimmt das Orchester der Komischen Oper Berlin die Instrumente. „SANCTA“ beginnt mit Paul Hindemiths 25-minütiger Oper „Sancta Susanna“, die vom sexuellen Erweckungserlebnis der Nonne Susanna (Cornelia Zink) erzählt. 

Oralsex am riesigen Kreuz

Die klassische Perspektive der Guckkastenbühne einer Opernaufführung wird durchbrochen, als zwei nackte Performerinnen den Saal betreten, die sich vor dem Orchestergraben küssen. Susanna ist fasziniert von ihnen und erkennt, dass die ihr als Nonne auferlegten Keuschheitsvorstellungen nicht länger haltbar sind. Sie steigert sich in eine sexuelle Ekstase, die von aufbrausenden Orchesterklängen begleitet wird. Immer mehr nackte Performerinnen betreten die Bühne, räkeln sich, kriechen, geilen sich auf, als wären sie Hieronymus Boschs Gemälde „Garten der Lüste“ entsprungen. Schließlich reißt sich Susanna den Habit herunter und besingt mit viel Opernpathos ihre eigene Schönheit, während zwei Performerinnen Oralsex am riesigen Kreuz haben, das über der Bühne hängt. 

Neben den für Holzingers Produktionen typischen körperlichen Grenzgängen, wie etwa dem Malen eines Gemäldes mit frischgezapftem Blut in Holzingers früherer Produktion „A Divine Comedy“, nimmt in „SANCTA“ Livemusik eine so große Rolle ein wie nie zuvor. Ein ganzes Team an Komponist*innen (Johanna Doderer, Born in Flamez, Stefan Schneider, Nadine Neven Raihani) hat für die Inszenierung Neukompositionen und Arrangements von Werken quer durch die Musikgeschichte erstellt. Popsongs wie „It’s raining men“ stehen neben sakralen Bach-Chorälen. Zusammen mit der Körperakrobatik entsteht durch den Mix der Musikstile ein Spektakel, bei dem einem in den fast drei Stunden ohne Pause niemals langweilig wird, selbst wenn die einzelnen Musik-Nummern schnell im Leerlauf enden. Die aus Holzingers Stücken bekannte Performerinnen-Gruppe wurde durch Gesangssolistinnen, Sängerinnen des Chores des Schweriner Staatstheaters und Orchester aufgestockt. So entsteht eine angemessene Staffage, um sich mit der Verlogenheit und Grausamkeit der dekadenten Kirche auseinanderzusetzen.

Ein vapender Jesus mit Plüsch-Lamm

Die Bibel lehrt: Als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis aßen, erkannten sie, dass sie nackt sind und schämten sich fortan. Durch die selbstbewusste, schambefreite Nacktheit in „SANCTA“ entsteht ein Gegenentwurf zur christlichen Schöpfungsgeschichte. Hierfür eignen sich die Performerinnen männliche Rollen an, etwa wenn Saioa Alvarez Ruiz als „erste lesbische Päpstin“ auftritt oder die Performerinnen, als Handwerker verkleidet, Michelangelos Fresko der Erschaffung Adams zerschlagen. Holzinger bedient sich mit Kirchenchorälen und durch das Publikum geschwenktem Weihrauch religiöser Inszenierungsstrategien. Die Performerinnen berichten von ihren persönlichen sexuellen Befreiungserlebnissen, die sie zu Heiligen der neuen holzingerschen Kirche machen.

In der holzingerschen Kirche wird vereint, was sich im christlichen Kulturkreis oft ausschließt: lustvoller Sex und Heiligkeit, Musical und Oper, Komik und Tragik. Schauspielerin Annina Machaz betritt etwa als vapender Jesus mit einem Plüsch-Lamm über den Schultern die Bühne und gibt den Messias als charismatischen Komiker. Die Figur des Leides wird zu einer Komödienfigur transformiert.

Die eigene Showhaftigkeit zelebrieren

In einer Szene erzählt die Sängerin Andrea Baker von ihrem Traum, Operndiva und Discodiva zugleich zu sein. Dieser Traum wird in „SANCTA“ Realität. An Stadttheatern ist es üblich, dass Opern- und Musicalaufführungen von den gleichen Sänger*innen gespielt werden. Dass Sänger*innen wie in „SANCTA“ in einer Aufführung zwischen Gesangsstilen wechseln, ist hingegen selten. Die Darstellerinnen dürfen gemäß ihrer individuellen Fähigkeiten und ihrer individuellen Lust performen. Schließlich entledigen sich auch einige Sängerinnen des Schweriner Opernchores ihrer Nonnengewänder. Genauso wie sich Susanna weigert, ihr Begehren der kirchlichen Disziplin zu unterwerfen, weigern sich die Performerinnen, ihre Kunst einer Theaterdisziplin zu unterwerfen. Tradierte Abgrenzungen künstlerischer Genres werden überschritten, sexuelles Begehren zelebriert. Die Suche nach einer befreiten, schamlosen weiblichen Identität geht mit der Suche nach einer befreiten, schamlosen Form des Theaters einher.

„SANCTA“ ist ein Spektakel, das die eigene Showhaftigkeit zelebriert, mit dem Voyeurismus des Publikums spielt und dabei immer wieder in körperlichen Extremsituationen gipfelt: Einer Performerin wird an der Stelle der Seitenwunde Christi ein kleines Stück Fleisch herausgeschnitten, das anschließend gebraten und von einer anderen Performerin gegessen wird. Das eigene Leid wird physisch selbstbestimmt inszeniert. Es wird gezeigt, dass die Performerinnen mit ihren Körpern unabhängig von der gesellschaftlichen Bewertung  umgehen können, wie sie wollen. Durch das Erzählen persönlicher Leidensgeschichten werden diese enttabuisiert, die eigene Stimme wird stark gemacht und die Performerinnen empowert.

Die Radikalität erschöpft sich

Als am Ende der Vorstellung gemeinsam mit dem Publikum „Don’t dream it, be it“ aus der „Rocky Horror Show“ gesungen wird, prophezeit das die Erlösung durch lustvolle Selbstschöpfung. Mit Mut zum Kitsch befreit diese klare, popkulturelle Botschaft die Aufführung vom Anspruch, dass große Kunst subtil sein müsse. Holzinger steht in Solidarität gemeinsam mit den Performerinnen auf der Bühne und lässt sich Metallhaken durch den Rücken bohren, um daran hochgezogen zu werden. Man merkt, wie sich die Radikalität im Laufe des Abends erschöpft und das Publikum zunehmend unbeeindruckt wirkt.

Die Schockgrenze des Publikums verschiebt sich. Nicht nur im Verlauf des Abends, sondern auch historisch gesehen. Als Hindemiths Oper „Sancta Susanna“ in den 1920ern uraufgeführt werden sollte, war das ein Skandal. Die katholische Kirche empfand das Werk als gotteslästerlich und verhinderte die Premiere. Im Jahr 2025 erscheint „Sancta Susanna“ als gemütlichster, vielleicht sogar langweiligster Teil von „SANCTA“. Die Darstellung des sexuellen Erwachens löst 100 Jahre später keinen Skandal mehr aus.

Auch Holzinger verschiebt die Schockgrenze mit ihren Arbeiten. Das ist einerseits gut, weil man darin die zunehmende Toleranz des Publikums gegenüber der Darstellung selbstbestimmter weiblicher Sexualität und Körperlichkeit sieht, selbst wenn diese bis zur Selbstverletzung geht. Andererseits erschrickt man, wenn man Holzinger beim Schlussapplaus mit blutüberströmten Rücken sieht, über das eigene Abgestumpftsein.

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Ole Zeitler

Ole Zeitler wurde 2002 im thüringischen Altenburg geboren. Im Alter von sechs Jahren zog ihn das glamouröse Glitzerkleid der Königin der Nacht in den anhaltenden Bann magischer Theaterwelten. Während seines Bachelors in Kulturwissenschaft und Deutscher Literatur in Berlin arbeitete er im Abenddienst der Staatsoper und wurde zum Opernnerd. Aktuell studiert er in Wien Kunst- und Kulturwissenschaften und schreibt (Musik-)Theaterkritiken für das junge Kulturmagazin Bohema. Er begeistert sich für Inszenierungen, die Genregrenzen überschreiten und die Widersprüche des Lebens spürbar machen.

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