Was vom Theatertreffen bleibt

Gut zwei Wochen lang haben die Blogger*innen Theater geschaut, sich schreibend die Nacht um die Ohren geschlagen, journalistischen Output geliefert, Theatermenschen interviewt. Hier ihr Rückblick

Welche Inszenierung der Auswahl hat dich am meisten beschäftigt, und warum?

Lily Diemer: Auch wenn mich „Blutbuch“ komplett in den Bann gezogen hat und die Tränen zum Schluss hin stetig rannen, blieben meine Sinne lange benebelt von der stickigen Luft, vermischt mit Weihrauch in der Volksbühne, wo wir „Sancta“ sahen. Ob das Zittern danach dem langen Sitzen oder dem gesehenen Blut, den Rollschuh-Stunts oder den musikalischen Szenen geschuldet war? Auf jeden Fall habe ich am „Sancta“-Abend viel Blickkontakt mit meinen Blog-Sitznachbar*innen gehabt. Und das spür- und sichtbare Verbundenheitsgefühl auf der Bühne strahlte bis in unsere Reihe.

Luise Helene Otto: Die Inszenierung von „Bernarda Albas Haus” mit der Frage nach dem von Frauen weitergeführten Patriarchat hat mich nachdenklich zurückgelassen. Das ewige Kreisen um eine Figur und das Sich-verhalten zu einer männlichen Außenwelt. Ich frage mich: Wo ist die Utopie? Die Frauen kämpfen nicht gemeinsam, sondern gegeneinander, als verlängerter Arm der männlichen Unterdrücker, die sich wie Parasiten in ihren Dialogen einnisten. Alles dreht sich um den schönen Peter, aber wer zur Hölle ist dieser Typ überhaupt? Den Bechdel-Test würde diese Inszenierung auf jeden Fall nicht bestehen. Als einzig hoffnungsvolle Figur tritt die für verrückt erklärte Großmutter auf. Ich will mich an ihr festhalten, an der Freiheit in der absoluten Unfreiheit und der Lebensfreude gegenüber einer verdorbenen Welt.

Momo Bera: Was ist noch Theater? Braucht es den realen Körper im Raum, auf der Bühne, braucht es den Moment Unwiederholbarkeit einer Aufführung als kollektive Erfahrung, also braucht es ein Publikum? Was ist eine reale Erfahrung? Wie leben, wie sterben und wie Theatermachen in der Zukunft und Zukunftszukunft? Ich könnte diese Aneinanderreihung an Fragen noch lange fortführen. Ich stelle mir vor, wie ich in 30 Jahren alleine in meiner individualisierten 15 Quadratmeter-Wohnraumzelle einer KI-geleiteten Hypersmartcity sitze, die AirCon auf 21 Grad, Außentemperatur too hot to handle, Gesellschaft too hot to handle, mir irgendwelche VR-Kontaktlinsen reinfahre und meinen drei ChatBot-Friends mitteile, ich säße jetzt im Theater. Mir schaudert es. So einen grandiosen Pessimismus gibt „EOL“ nicht vor, das ist meiner. Aber ja, „EOL“ hat mich wohl etwas beschäftigt. 

Ole Zeitler: Warum gibt es im 21. Jahrhundert so viel Einsamkeit, wenn doch das Zusammensein das Schönste auf der Welt ist? Mit dieser Frage im Kopf, einem warmen Gefühl im Herzen und einer Träne im Auge saß ich beim Schlussapplaus von „ja nichts ist ok“. In der Volksbühne der Playlist zu lauschen und über Flachwitze zu lachen, durchbrach für mich die Verkrampftheit der Hochkultur und eröffnete die zarte Möglichkeit – vielleicht auch nur Utopie – zu Herzlichkeit und Gemeinschaft. In den folgenden Tagen kam mir die Frage nach Einsamkeit und Zusammensein zwischen Begegnungen mit fantastischen Menschen und der Anonymität des B&B-Hotels immer wieder in den Sinn. „Ich hab euch lieb“, flüstert Lily uns vor einer Vorstellung zu und da ist es wieder: dieses warme Gefühl. Ganz schön kitschig, aber c’est la vie.

Tim Wedell: Die Inszenierung, die mich am meisten beschäftigt hat, war Kontakthof – Echoes of ’78. Dieser Abend hat mich wirklich berührt! Hater sagen, der Abend sei  redundant, ist mir aber egal, denn das war großes Theater. Das Leben so zu feiern, ohne die Verstorbenen und Abwesenden zu vergessen. Den Widerspruch von Leben und Tod gemeinsam auszuhalten und dann auch noch zu zelebrieren? O Fräulein Grete, das ist wundervoll!  

Was nimmst du aus deiner Zeit hier mit?

Lily Diemer: Wir haben geschrieben und gelernt, geredet und gelacht, diskutiert und korrigiert, geschaut und zugehört – und zum Schluss getanzt. Diese intensiven Tage haben ein wohlig erfülltes Gefühl ausgelöst. Theater ist zum Teilen da, und dieser Gedanke wurde während des Theatertreffens nur verstärkt. Theater teilen, auch wenn wir Bloggis überall im Raum verstreut sitzen und uns über Ränge und Reihen zuwinken. Wie sich später draußen im Dunkeln Grüppchen bilden und durch Worte – oder Tränen – neue Beziehungen und Momente entstehen. Wie ich alle Inszenierungen mit unterschiedlichen Bloggis in Verbindung bringe, weil wir sie miteinander geteilt haben. Und wie schön es ist, davon zu erzählen und die Begeisterung weiterzutragen.

Luise Helene Otto: Eine große Handvoll Sticker, ein Notizbuch gefüllt mit quer über die Seiten geschriebenen, unlesbaren Notizen, einen Haufen Theaterkarten, eine neue Glasflasche von den Berliner Festspielen, eine Menge Kassenzettel, falls ich irgendwann verstehe, wie Steuererklärung geht, eine Theaterzeitschrift, die ich hab mitgehen lassen, eine Gesichtsmaske, die ich dann doch nicht mehr machen konnte, Bleistifte, Kugelschreiber, ein Flipchart-Papier mit Christian Rakows Erklärung, wie man eine gute Kritik schreibt, ein Schlafdefizit von 6-28 Stunden, große Lust auf Nudeln mit Pesto, neue wunderbare Freundschaften und einen Apfel vom Hotelfrühstück.

Momo Bera: Als ich die Abschlussperformances des Theaterforums in dem Format FORUM’S FORUM gesehen habe, meinem heimlichen „Inszenierungsfavorit“, ist mir wieder klar geworden, was für mich die emanzipative Kraft von Theater ist und dass sie auch fern von Uniseminar-Blabla tatsächlich noch existiert. Das war berührend zu sehen und ein Reminder, der irgendwo auch optimistisch stimmt. Diese Kraft zu spüren habe ich manchmal auf den großen Bühnen und während des Theatertreffens vermisst. Eine teilnehmende Person des Theaterforums meinte in ihrer Performance, das deutsche Theater sei untot. In all der Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten, die in dieser Formulierung stecken, habe ich den Begriff sehr gefühlt.

Ole Zeitler: Theaterkritik bedeutet „professionalisierte Schizophrenie“, hieß es im Gespräch mit der Theatertreffen-Jury: Als Kritiker*in muss man informiert sein, um die Inszenierung kontextualisieren zu können und zugleich bereit sein, dieses Wissen zu vergessen, um sich auf ihre Wirkung an sich einzulassen. Beim Theatertreffen-Blog haben wir Workshops sowie zehn bemerkenswerte Inszenierungen besucht, Texte geschrieben und diskutiert und inspirierende Menschen kennengelernt. Das war eine Erfahrung zwischen Wissen, dem Vergessen von Wissen, Unwissen und der Aneignung von neuem Wissen. Wir haben journalistische Skills erworben, die sofort zur Anwendung kamen. Am Ende steht das Gefühl, in diesen zwei Wochen so viel erlebt und gelernt zu haben wie sonst in zwei Monaten.

Tim Wedell: Kritik schreiben muss nicht einsam sein. Kritik kann auch ein kollektiver Prozess sein. In die Nacht reingearbeitet und um 11 Uhr Treffen zum kollektiven Redigat. Ich müde, sieben andere ausgeschlafen und alle drauf auf meinen nächtlichen Text. Das Redigat wie eine Seeschlacht. Nach und nach wird aus dem stürmischen Meer holpriger Sätze die ruhige See von fließenden Worten. Um jedes Wort wird gefeilscht, um jeden Ausdruck gestritten. Und beim Fazit ist eine gemeinsame Meinung ganz unmöglich. Ey und nicht vergessen, Produktion geht nicht ohne Vorproduktion. Ohne Blog-Rückgrat-Nell hätte das alles nicht geklappt.

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TT-Redaktion 2025

Die gesamte Redaktion des TT-Blog 2025: Momo Bera, Lily Diemer, Luise Helene Otto, Tim Wedell und Ole Zeitler.

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