Die Zupackende

Jette Steckel macht seit 20 Jahren Theater. Nun ist sie mit „Die Vaterlosen“ erstmals zum Theatertreffen eingeladen. Eine Begegnung mit ihr im Garten der Berliner Festspiele.

Jette Steckel möchte in die Sonne. Die Tische ringsherum im Garten der Berliner Festspiele bekommen davon nicht mehr viel ab. Also beginnt die Begegnung mit der Regisseurin mit einem Umbau. Wir hieven zwei weiße Bierbänke zum letzten sonnigen Ort des Gartens. Schnurstracks platziert sich Steckel so, dass sie direkt in die Sonne schauen kann. Ihre schwarze Sonnenbrille hatte sie vorher schon auf – und wird sie für die Dauer des Gesprächs auch nicht mehr abnehmen, weshalb man ihre Mimik nur erahnen kann. Steckel, kurze Haare und graubraunes Hemd, wirkt abgeklärt und smart. Man kann froh sein, sie während des Theatertreffens zu erwischen. Sie müsse gleich noch dem Ensemble Feedback von der ersten Vorstellung der „Vaterlosen“ geben und macht den Eindruck, als stände sie unter Strom.   

Die 41-Jährige inszeniert seit zwanzig Jahren beinahe im Akkord an den größten Häusern des Landes: in Berlin, Wien und vor allem am Thalia-Theater in Hamburg, wo sie gerade noch Hausregisseurin ist. Nun war es ihre erste Inszenierung an den Münchner-Kammerspielen, mit der sie zum Theatertreffen fahren durfte. Manch einer würde sagen: längst überfällig, gilt sie doch schon länger als eine Garantin für modernes, zupackendes Theater. Sie selbst macht keinen Hehl daraus, dass sie solche Auszeichnungen nicht weiter interessieren: „Vielleicht ist das eine Art von Schutzreaktion, aber ich versuche den Fokus von dieser Art von Erfolg im Arbeiten wegzulenken. Die gefühlten Erfolge liegen im Gelingen von Zusammenarbeit und im Erreichen von einem Publikum – egal wo.“

„Die Vaterlosen“ hat Steckel in ihren Studientagen berührt

Anton Tschechow hat „Die Vaterlosen“ mit 18 Jahren geschrieben. Steckel hatte sich von dem Stoff ebenso in ihren Studientagen berühren lassen. Der steht hierzulange selten auf dem Spielplan: mutmaßlich zu lang und zu viele Figuren. Wenn man Steckel über den Stoff sprechen hört, war es genau diese Unbändigkeit, die sie gereizt hat, daraus einen großen Ensembleabend zu destillieren: „Ich mochte, dass es noch etwas Anarchisches hat.“ Und während Steckel mehrfach verzweifelt versucht, ihre zuvor gedrehte Zigarette anzuzünden, schiebt sie noch hinterher: „Das Unökonomische und der Wille, diese Menschen so durchzuexerzieren, das mag ich total. Da nimmt sich der junge Tschechow selbst auseinander. Alles liegt noch offener da als bei seinen späteren durchweg meisterhaften Stücken.“

Der Narzisst schaufelt sich sein eigenes Grab

In ihrer Inszenierung lässt sie die Figuren des russischen Bürgertums im 19. Jahrhundert zunächst vor dem Eisernen Vorhang eintrudeln, smalltalken, sticheln, auf Betriebstemperatur bringen: „Im ersten Akt werden die Pforten geöffnet“. Die vierte Wand – gar nicht erst aufgebaut. Die Generalswitwe Anna Petrowna hat zur Gartenparty geladen, um die Hochzeit ihres Stiefsohns zu feiern. Die Anspannung steigt, als der Dorfschullehrer Platonow auftaucht, der schon zu Beginn wie der Elefant im Raum wirkt. Der Vorhang hebt sich, und ein Feuerwerk läutet nicht nur die Nacht ein, sondern auch den Abgrund der Menschlichkeit.

Sechs Personen am Bühnenrand vor zahlreichen am Boden angebrachten Stäben
Die Vaterlosen ©Armin Smailovic

Florian Lösche hat die Drehbühne mit Metallstangen vollgestellt, durch die die Figuren besoffen irren, stolpern, jagen und einander ständig verlieren: in Banalitäten und Raufereien, aber auch in Generationskonflikten und natürlich in Sachen Liebe. Gleich zwei Frauen verfallen dem verheirateten Platonow, der damit nicht umgehen kann. Und so sieht man einem Narzissten fast vier Stunden dabei zu, wie er sich sein eigenes Grab schaufelt. Die fiebrige Fete endet mit Pistolenschüssen – das Gewehr ist natürlich, tschechow-like, schon im ersten Akt einmal aufgetaucht.

Starke Rollenprofile weiblich gelesener Personen

Was Jette Steckels Arbeiten durchzieht, sind die starken Rollenprofile der weiblich gelesenen Personen. Man würde ihr jedoch nicht gerecht werden, wenn man schreibt, sie verfolge damit eine Agenda. Die Aufwertung der Frauenfiguren ergebe sich zwangsläufig aus der Arbeit heraus, sei ein Selbstläufer. In „Die Vaterlosen“ schmettern die Frauen auch gern mal den männlichen Figuren entgegen, was sie von ihnen halten – Tschechow hatte das bereits angelegt. Steckel schärfte. Nur bei einer Figur, schießt es förmlich aus der Regisseurin raus, ging es ihr zu weit. Marja Jefimowna erlebt einen Übergriff durch Platonow, klagt ihn an, nur um dann ihre Anklage zurückzunehmen, weil sie den Mann so liebe.

So wollte das Steckel nicht stehen lassen, weshalb sie die Dramatikerin Katja Brunner um einen Kommentar in Monologform bat. Nach der Pause in kühlem Licht vorgetragen, thematisiert er auf kluge Art den Umgang mit Opfern und Tätern. So umläuft Jette Steckel die bloße Reproduktion toxischen Verhaltens geschickt, indem sie den männlichen Perspektiven zwar Raum gibt, aber sie nicht so stehen lässt. Im entscheidenden Moment streut sie einen Fremdtext ein, der reflektiert und kommentiert. Es sind Impulse, die den Figuren kurz aufzeigen, was ihr Verhalten mit den anderen macht.

Die Abschaffung des alten weißen Mannes

„Das ist, wenn man so möchte, die Abschaffung des sogenannten alten weißen Mannes, was wir hier gerade machen“, bringt Steckel es auf den Punkt. „Dies geschieht aber auch durch die Figur selbst – es ist ja nicht so, dass männlich gelesene Personen nicht auch selber unter bestimmten Rollenmustern leiden und diese los werden wollen.“ Man spürt ihre Empathie für die Figuren, aber gleichzeitig ihre kritische Hinterfragung. Bereits der Stücktitel bezieht sich auf die Vatergeneration und wie diese uns prägt, positiv wie negativ. Um das Zeitlose des Textes und seiner Fragestellungen zu unterstreichen, hat Jette Steckel aus einer Schnapsidee kurzerhand Ernst werden lassen: einen alten, weisen Mann auf die Bühne zu setzen.

Musik als Leitplanke ihrer Inszenierungen

Der Dramaturg Carl Hegemann plaudert mit wechselnden Gästen auf der Bühne über Gott und die Welt – als Vertreter ebenjener Generation, die uns einerseits Werte schenkt und anderseits auch einen Scherbenhaufen an Verdrängtem und Krisen hinterlässt. Das wirkt mitunter trotzdem mansplaining, aber vermutlich intendiert, denn die Kinder der folgenden Generationen schneiden den beiden gern das Wort ab. Nur der Schluss macht den Sack eindeutig zu: Anna Petrowna rastet komplett aus, beschimpft Platonow als einen „schwanzgesteuerten Schwachmaten“ und schmeißt ihn von der Bühne. Tschechow ist für Steckel „Menschen-Theater“, und sie weiß das gekonnt zu inszenieren. Ihre Arbeiten geben den Schauspieler*innen viel Raum, um sich in den Kosmos reinzulegen.

„Die Vaterlosen“ ist exemplarisch für Jette Steckels Regiearbeiten: auch sie arbeitet akribisch an Figurenpsychologie, nimmt sie auseinander. Wenn sie die Faxen dicke hat, nimmt sie sich einen Fremdtext hinzu. Die Reproduktion beispielsweise von Misogynie findet nie ohne Kommentar statt. Immer begleitet von Musik, die den Ton angibt – Steckels Leitplanke im gemeinsamen Arbeiten mit den Ensembles. Das zeigte sich eindrucksvoll auch in ihrer Adaption von „Romeo und Julia“, die sie 2014 am Thalia-Theater als große Pop-Oper mit der Musik von „Soap&Skin“ inszenierte. Bei alledem stellt sie auch das Komische heraus. Joachim Meyerhoff als Platonow streut in „Die Vaterlosen“ immer wieder selbstironische Spitzen über das Theater ein und macht den Abend damit auch zu einer kleinen Reflektion über den Betrieb.

Jette Steckel ist im Laufe des Gesprächs ruhiger geworden, wirkt lässiger und sortierter. Was reizt sie, seit so vielen Jahren Theatern zu machen? Ihre Antwort ist ein simpler Satz: „Für mich ist Theater eine Umgangsform mit Leben.“ Vielleicht brauchte Jette Steckel diese zwanzig Jahre, um an den Zenit ihres Erfolges zu kommen, mit einer Arbeit, die von vorne bis hinten aufgeht, die einen vier Stunden lang fesselt und auf faszinierende Weise zeigt, was modernes Regietheater heute sein kann. Kaum ist das Gespräch vorbei, setzt Jette Steckel ihre Sonnenbrille ab, als wäre das Gespräch mit einem Besuch ins Solarium verbunden und die Session nun vorbei. Neben all der Lässigkeit scheint sie doch auch ruhelos zu sein. Sie fährt sich einmal durch ihre Haare und ist dann plötzlich verschwunden. Den letzten Schluck ihres Kaffees hat sie in der Sonne stehen gelassen.

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Vincent Koch

Vincent Koch, geboren 2001, hat in Dresden erste Berührungen mit dem Theater gemacht. Seit 2021 studiert er Kultur- und Theaterwissenschaften in Leipzig. Für Theaterabende fährt er auch mal durch die ganze Republik und schreibt darüber, seit Dezember 2023 u.a. für nachtkritik.de. Er arbeitet außerdem für mephisto 97.6. – dem Lokalradio der Uni Leipzig und ist dort einer der Leiter des „Kultstatus“, der Kultur-Redaktion. Neben Theater und allem, was dazu gehört, interessiert er sich für Popkultur, Literatur, Film und Ostdeutschland.

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