„Ich schreibe die Texte für mich selbst“

Simon Strauß ist einer der wenigen festangestellten Theaterkritiker*innen Deutschlands. Ein Gespräch über alte Regieträume, die Infragestellung von Theater durch die Politik und Zukunftsperspektiven für Kritik.

TT-Blog: Was reizt Dich am Theater?

Simon Strauß: Mich hat immer der Moment der Verwandlung gereizt. Ich habe schon während der Schule Theater gemacht und wollte Regisseur werden. Schule war nicht nur eine einfache Erfahrung für mich, aber der Moment, als ich mit zehn, zwölf Leuten selber was auf die Bühne gebracht habe, war ein mächtiger Moment. Das Spannendste am Theater ist, dass sich Menschen in Kurzzeitcliquen und Banden verwandeln, dass sie gemeinsam etwas auf die Beine stellen.

Als ich während eines Auslandjahres auf einem Jungen-Internat in Neuseeland war, war ich überfordert von den ganzen farming boys dort. Die Theater-AG war der einzige Ort, wo man aus dem Internat weg und auch mit dem Mädchen-Internat in Kontakt kam. Theater spielen war eine Entlastung von all dem Fremden, was da sonst war. Ich habe dann viel hospitiert, bei Peter Stein und bei den Salzburger Festspielen, dann wollte ich eine Regieassistenz bei Luc Bondy machen, das zerschlug sich aber, und somit habe ich dann Geschichte und Altertumswissenschaften studiert.

TT-Blog: Bereust Du es, kein Regisseur geworden zu sein?

Simon Strauß: Heute bin ich sehr froh darüber. Ich wäre sicher kein guter Regisseur geworden. Aber ich mag nach wie vor die Stimmung und die Verwandlung in diesem sehr unklaren, zauberhaften Raum Theater. Alle nehmen irgendwelche Rollen an und glauben daran, dass es wichtig ist, das aufzuführen. Das Gegenweltliche daran mag ich sehr. Auch im sozialen Sinne: dass man sich dem aussetzt und nicht etwas intentional Funktionalistisches macht. Das halte ich sowieso für das Wichtigste unserer Zeit: etwas zu machen, was sich nicht auszahlen kann in Dollarzeichen.

TT-Blog: Wie kam es, dass Du angefangen hast, über Theater zu schreiben?

Simon Strauß: Für die Baseler Zeitung habe ich während des Studiums Kurzkritiken über alles geschrieben, was man mir gab: Zirkusaufführungen zum Beispiel.Ich fand das einfach toll: man schreibt einen Text und kriegt Geld dafür. Ich habe schnell begriffen, dass man sehr frei im Schreiben sein kann und auch sehr viel über seine eigene Zeit und sich selbst in diese Texte packen kann.

TT-Blog: Der Dramatiker Nis-Momme Stockmann hat neulich zu uns gesagt, dass Theaterkritiker*innen und Künstler*innen auf der Bühne „zusammen auf dem absteigenden Ast sitzen“. Wo verortest du dich als Kritiker?

Simon Strauß: Die Kritikergarde der vorigen Generation hätte jetzt gesagt: Es gibt eine klare Trennung zwischen Kritik und Künstler – auch wenn bei den Premierenpartys die meisten doch zusammensaßen. Aber die ursprüngliche Idee der Kritik war schon, dem schöpferischen Prozess etwas Kritisches gegenüberzustellen. Das akzeptieren die Schöpfer manchmal nicht so gerne, aber auch die Theaterkritik hat etwas Schöpferisches an sich. Für mich ist diese Trennung nicht mehr so klar. Natürlich ist die Unabhängigkeit wichtig. Deswegen schreibe ich auch nicht über Künstler, mit denen ich befreundet bin. Aber auf der anderen Seite müssen wir gemeinsam drüber nachdenken, wo die ganze Reise hingeht. Das wird in den nächsten Jahren noch relevanter sein, weil die Gesellschaft grundsätzlich infrage stellen wird, was das Theater macht. Deshalb müssten beide Seiten – Kritik und Kunst – enger zusammenarbeiten.

Personen sitzen an einem Tisch und unterhalten sich
©Leonard Haverkamp

TT-Blog: Du willst Kritiker*innen ans Theater holen?

Simon Strauß: Ich würde sie natürlich nicht anstellen, aber sie einladen und darüber sprechen: Was ist das für ein Haus? Was kann es sein? Wo soll es hin? Damit man wegkommt von dieser Vorstellung, dass man sich besonders ins Zeug legen muss, damit der Kritiker gut über einen schreibt. In Berlin wird Theater auch in zehn Jahren noch so funktionieren wie jetzt. Aber an den kleineren Häusern in Jena, Cottbus und Saarbrücken, wo sich unter dem Druck klammer Kassen schnell fundamentale Fragen stellen können, muss ein anderer Modus eingenommen werden. Warum gibt es nicht mehr Kooperationen zwischen Theaterhäusern und kritischen Beobachtern?

TT-Blog: Wie viel Macht hat man denn als Kritiker heute noch?

Simon Strauß: Nehmen wir mal das Zürcher Beispiel. Da hat die Theaterkritik durchaus Macht durch Texte eingesetzt, und Einfluss darauf genommen, wie eine Theaterleitung dasteht. Meine persönliche Art ist nicht zu sagen: Ihr macht das ganz schlecht, meine Art ist eher darzustellen, was ich ideal finde. Dadurch ist klar, was ich nicht so gut finde.

TT-Blog: Was war der Hauptvorwurf? 

Simon Strauß: Das Haus war leer gespielt. Die hatten am Ende eine peinlich geringe Auslastung. Schlechte Auslastung bei maximaler Selbstbesoffenheit, was sie an tollen, neuen Dingen machen, ohne wirklich Rücksicht auf die diverse Stadtgesellschaft zu nehmen. Es gibt ein junges, queeres Publikumsinteresse in Zürich, aber eben auch ein großes schauspielerisch-narratives Interesse. Zürich ist für mich ein Negativbeispiel eines fehlgeleiteten Programmhochmuts. Ich finde, die beiden Intendanten haben keine Verantwortung übernommen. Nachdem ich ein paar Texte über Zürich geschrieben hatte, rief mich Benjamin von Blomberg an und fragte, ob wir uns nicht einmal treffen wollen. Wir haben dann zwei Stunden miteinander diskutiert und waren danach nicht einiger als zuvor. Doch es war wichtig zu merken, dass es uns beiden um etwas geht, das wir miteinander sprechen und streiten und nicht nur unseren gegenseitigen Reflexen folgen. Die FAZ reizt die Leute im Kulturbetrieb immer noch auf erstaunliche Weise. Die Vorstellung, wir seien dieses hochmütige Blatt aus Frankfurt – dagegen gibt es eine Grundaggression.

TT-Blog: Apropos: 2023 wurde eine Kollegin von Dir von einem Choreografen, über den sie berichtet hatte, mit Hundekot attackiert. Was hat das mit dir gemacht? 

Simon Strauß: Das fand ich furchtbar. Ich meine: Man kann gegen Kritiker scharf und hart sein. Denn auch wir teilen viel aus, also müssen wir auch einstecken können. Aber in dem Moment, wo jemand einen physischen Übergriff macht, bricht das mit allen Konventionen der Zivilisation. Das darf nicht passieren. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Das ist eigentlich alles, was ich dazu sagen will. Ich weiß übrigens auch nicht, ob es so eine gute Idee vom Theaterhaus Jena war, den Vorgang ironisch zu theatralisieren. Spaßig ist daran eigentlich nichts.

Personen sitzen an einem Tisch und unterhalten sich
©Leonard Haverkamp

TT-Blog: Für wen schreibst du eigentlich Kritiken?

Simon Strauß: Ich kann darauf nur ehrlich antworten: Ich schreibe die Texte für mich selbst. Ich schreibe jeden Text so, dass ich ihn gerne lesen will und dass es eine Ehrlichkeit darin gibt. Sicher verarbeite ich auch immer ein Stück von dem, was mich in dem Moment umtreibt: politisch, sozial, gesellschaftlich, ästhetisch. Ich denke nicht in erster Linie an die „Nutzer“. Obwohl dir heute jeder Unternehmensberater sagt: erstmal eine Nutzeranalyse machen. Ich möchte nicht informieren, sondern Leute davon überzeugen, dass es wert ist, das Theater als Reflexionsanlass zu benutzen, um über größere Dinge nachzudenken als ihre Steuererklärung.

TT-Blog: Werden Theatertexte denn online gut geklickt?

Simon Strauß: Eher nicht. Die Kritik einer Uraufführung im Theater hat gegenüber einem Text wie „Das Paradox des Seitensprungs“ keine Chance. Eine einfache Theaterkritik führt in der Regel nicht dazu, dass Leute Abos abschließen. Die einzige Möglichkeit, Klickzahlen zu erhöhen liegt darin, über Skandale zu schreiben. Zum Beispiel über „das woke Theater in Zürich“. Oder über Stars zu schreiben, also John Malkovich in der Elbphilharmonie. Theaterkritik ist nicht dafür gemacht, das Clickbait-Rennen zu gewinnen. Es gibt meiner Meinung nach aber die Verantwortung einer freien Presse, die Theaterkritik trotzdem als wichtig einzustufen. Viele Medien haben die klassische Theaterkritik schon abgeschafft. Die Kulturpolitiker der kleineren Städte werden also irgendwann die Frage stellen: Warum finanzieren wir das eigentlich?

TT-Blog: Wenn es von öffentlichem Interesse ist, stellt sich die Frage: Was macht einen guten Kritiker aus? Kann das jede*r machen?

Simon Strauß: Nein. Entscheidend ist Neugier. Viele Anfänger denken, dass sie mal eben schnell übers Theater schreiben können. Man kann das aber nicht nebenbei machen. Man muss sich komplett darauf einlassen, sich konzentrieren. Anfangs bin ich nach dem Theater sofort zum Schreiben Nachhause gefahren. Ich wollte nichts dazwischenkommen lassen. Denn bei jedem Schrott, den man sieht, stehen Leute auf der Bühne und geben viel von sich preis. Als guter Kritiker muss man auch etwas von sich preisgeben. Nicht noch locker flockig was trinken, darüber quatschen, bisschen Netflix schauen und am nächsten Tag mal eben eine Kritik schreiben. Mit dieser Haltung kommt kein guter Text zustande. Man muss sich schon herausgefordert fühlen, die Überwältigung zulassen.

TT-Blog: Was ist das Beste an Theaterkritik?

Simon Strauß: Das Tolle ist, dass du nicht richtig oder falsch liegen kannst, weil es darum geht, wie das, was da passiert, auf dich wirkt und dass du Worte dafür findest, diese Wirkung zu beschreiben. So richtig kontrollieren kann es ja auch keiner. Die Wirkung auf dich kann nicht angezweifelt werden. Für mich ist der emotionale Zugang der entscheidende.

TT-Blog: Wie sollte eine gute Theaterkritik in der Mischung aus Beschreibung und Urteil aussehen? Hast Du da Kriterien, und welche Rolle spielt so etwas wie die Tagesform?

Simon Strauß: Die Tagesform und das Hintergrundwissen sind natürlich entscheidend. Egal welches Stück man sieht, man findet immer Anknüpfungspunkte für das, was einen selbst gerade umtreibt. Kunst ist eben nicht funktional, sie hat was Eigenartiges und Kräftiges jenseits der rationalen Beschreibung. Der Zweifel macht einen guten Text aus: dass man ahnt, dass er nicht vollkommen richtig sein kann. Das Urteil ist nicht das Wichtigste. Ein guter Text zeigt den Prozess der Reflexion und der inneren Bewegung, die durch Formulierungen öffentlich gemacht wird.

TT-Blog: Stichwort Öffentlichkeit. Bereust Du manchmal, was du geschrieben hast?

Simon Strauß: Ich lese meine Texte selten nochmal. Aber ja, auch Kritiken sind eine literarische Form. Und ja, ich bereue manches. Ich habe sicher vieles falsch gesehen, und wenn ich das zweite Mal reingehen würde, würde ich etwas ganz anders sehen. Ich schreibe aber selten schlecht über Schauspielerinnen oder Schauspieler, weil ich immer das Gefühl habe, dass sie auch nur Gefangene einer Idee oder eines Konzepts sind. Meistens gehen meine Texte gegen die Regie oder die Dramaturgie, die sich nicht durchsetzt gegen die Regie – ein zentrales Problem unser Theaterzeit.

TT-Blog: Schreibst Du also nicht gerne Verrisse?

Simon Strauß: Nur, wenn es mir wirklich um die Sache geht. Ich lasse manchmal auch 120 schlecht gelaunte Zeilen über Abende, die mir egal sind, einfach weg. Aber das muss man sich leisten können. Die meisten Zeitungen zahlen inzwischen ihre Freien so schlecht, das man das eigentlich niemandem mehr zumuten kann.

TT-Blog: Würdest du uns trotzdem empfehlen, Theaterkritiker*in zu werden?

Simon Strauß: Unbedingt. Es gibt nicht viele Nachwuchsjournalisten, die sagen: Leidenschaft Nummer eins ist Theater. Du findest Tausende, die über Serien schreiben wollen, über KI, die ihren eigenen Podcast machen. Fürs Theater muss man Ausdauer haben, viel sehen und leidenschaftlich schreiben.

TT-Blog: Aber das ist die entscheidende Frage. Wir brauchen neue Kritiker*innen, aber es gibt praktisch kein Geld dafür. Was nun? 

Simon Strauß: Theaterkritiker heißt nicht, dass man nur über Theater schreibt, sondern zum Beispiel über einen Auftritt von Friedrich Merz beim CDU-Parteitag. Das ist auch ein theatraler Moment. Der Theaterkritiker kann in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens wildern, weil er Phänomene schnell gut einordnen und dafür eine Sprache finden kann. Das ist der beste Ausgangspunkt, um im Journalismus des 21. Jahrhundert zu bestehen, weil man multifunktional auf unterschiedlichen Medien agiert.

TT-Blog: Kannst Du eigentlich noch privat ins Theater gehen und das genießen, ohne an einen Text zu denken?

Simon Strauß: Ich gehe nicht mehr ins Theater, ohne dass ich einen Hintergedanken habe. Dafür gehe ich privat in die Oper. Da bin ich froh, dass ich nichts verstehen muss.

Simon Strauß, 1988 in Berlin geboren, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte. Er ist promovierter Historiker und seit 2016 Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Schwerpunkt auf Theaterkritik. Zuletzt erschienen von ihm „Sieben Nächte“ (2017) und „Römische Tage“ (2019) und „Zu zweit“ (2023).

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Vincent Koch

Vincent Koch, geboren 2001, hat in Dresden erste Berührungen mit dem Theater gemacht. Seit 2021 studiert er Kultur- und Theaterwissenschaften in Leipzig. Für Theaterabende fährt er auch mal durch die ganze Republik und schreibt darüber, seit Dezember 2023 u.a. für nachtkritik.de. Er arbeitet außerdem für mephisto 97.6. – dem Lokalradio der Uni Leipzig und ist dort einer der Leiter des „Kultstatus“, der Kultur-Redaktion. Neben Theater und allem, was dazu gehört, interessiert er sich für Popkultur, Literatur, Film und Ostdeutschland.

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