Kritiken lieben

Gastbeitrag: Die Regisseurin Jette Steckel ist dieses Jahr mit ihrer Tschechow-Aktualisierung „Die Vaterlosen“ beim Theatertreffen dabei. Für das Blog hat sie über ihre Sicht auf Theaterkritik geschrieben.

Ich wünsche mir gute Kritiken. Sie sollen all meine eigenen Skrupel in Wohlgefallen auflösen und sehen, was gesehen werden sollte; auch das, was nicht zu sehen war.

Ich möchte am Tag nach der Premiere aufwachen und das Gefühl haben, wir haben geschafft, was wir schaffen wollten und wir haben damit die Zuschauenden erreicht und bereichert.

Ich wünsche mir, das Gefühl haben zu können, dass die Vision aufgegangen ist.

Man möchte ihnen gefallen

Aber: Die Kritiken sind das Schlimmste am ganzen Beruf. Man tut so, als seien sie einem völlig gleichgültig, als ginge man da unbeirrt auf seinem künstlerischen Weg und sei von ihnen gänzlich unabhängig – die Realität aber ist anders: man möchte ihnen gefallen, man möchte einen guten Eindruck machen vor ihnen, man steht ewig vor dem Kleiderschrank, und überlegt, wie man am besten rüber kommt, aber dabei doch nicht so aussieht, als sei das die Absicht gewesen, weil das wäre ja anbiedernd – und das möchte man auch nicht sein.

Und so geht man dann los und tut so, als würde man sie gar nicht beachten, die Kritiken, die da kommen können und arbeitet mit viel Verve nur an der Sache, die da mit einem ihren Gang geht, während man im Nacken fühlt, wie sie näher kommen, wie sie einen beobachten und darauf warten, einen entblößen zu können.

Die Kunst verleiht der Kritik irrational Macht

Soweit zur Subjektive der Kunst. Der Scheinwerfer-Spot auf einem berüchtigten Kritiker im ansonsten dunklen Zuschauerraum, den Christoph Marthaler einst zündete und das ganze Ensemble stumm diesen einen Kritiker ins Visier nahm, zeigt genauso gut, wie irrational die Kunst der Kritik Macht verleiht, wie auch die Tatsache, dass der Schreibblock, den ein anderer Kollege einem Kritiker in der ersten Reihe entriss, leer war!

Allen geht es darum, gesehen zu werden. Je mehr man behauptet, dass es so nicht sei, desto klarer wird erkennbar, wie sehr jeder geliebt werden will für das, womit er oder sie sich veräußert, und das tun wir da auf der Bühne ja nun mal – wir veräußern uns, aus einem dringenden Bedürfnis heraus.

Erleichterung, wennn die Angst vorbei ist

Auch die Kritiken wollen gefallen, wollen gesehen werden. Sie positionieren sich so, dass im Vorbeigehen keiner um sie herumkommt, sie erfinden innerhalb von Stunden Lockrufe, echte Hingucker, Schlagzeilen, die den Nagel, der in diesem Fall die eigene monatelange Arbeit ist, auf den Kopf treffen sollen. Und wenn man dann doch hingeguckt hat, wenn man ihnen ins Netz gegangen ist, wenn sie einen dann in ihren Krallen haben und einen zerfetzen und zerreißen und alles und alle, die mit einem gingen, gleich mit – während man also vollkommen zerfleddert wird, spürt man eine gewisse Erleichterung dadurch, dass dieser Umstand endlich eingetreten ist, das man nicht mehr in der ständigen Angst leben muss, dass er noch bevorsteht oder so tun muss, als gäbe es diese Angst und die vorauseilenden Kompromisse nicht, die sie mitunter auslöst.

Wenn sie einem aber ihre Hymnen singen und man selbst in seinem Boot versucht, sich nicht an ihre Ufer locken zu lassen, nicht in ihre Fänge zu geraten und sich von ihnen umschmeicheln zu lassen, bei der eigenen Sicht auf die Arbeit zu bleiben, gar nicht erst hinzuschauen und der Wohltat ihres Gesangs nicht zu erliegen – so bleibt man doch untrennbar als ihr Wirt mit ihnen verbunden, dessen Arbeit sie zum eigenen Überleben brauchen.

Das Unmittelbare macht Theater aus

Oder ist man selber der oder die, die sie zum Überleben braucht? Wäre man vergessen, ja gar nicht wahrgenommen, wenn man nicht in ihren Munden wäre? Ein untrennbares Duett, das Theater und seine Kritik? Nein: die Spielenden und die Zuschauenden. Es ist und bleibt das Unmittelbare, das unmittelbare Erleben des Zuschauenden und des spielenden Menschen, das Theater ausmacht. Und gerade dieser Tausch macht das Theater im Zusammenhang der digitalen Entwicklungen immer einzigartiger. Die letzte Bastion des Analogen und der Unmöglichkeit von Fake – die Verabredung ist: alles ist gelogen – und so ist alles wahr. Es ist der Zusammenhang aus Ort, Zeit und Mensch, der möglich macht, dass Theater sich ereignet.

Es ist das zutiefst individuelle Empfinden des Einzelnen die Grundlage für ein Theatererlebnis. Und als solches ist auch eine Kritik, oder sagen wir eine Rezension, zu verstehen, als ein Eindruck, eine Meinung. Oder kann da mehr drin sein? Die meisten meiner Arbeiten haben vollkommen unterschiedliche, oft in der Wahrnehmung gegensätzliche Kritiken bekommen. Von Menschen, die zur gleichen Zeit, am gleichen Ort dieselbe Vorstellung sahen.

Unverhältnismäßiges Gewicht undurchdachter Eindrücke

Erhebt eine Kritik nicht den Anspruch der Objektivität, ist sie als Resonanzkörper wertvoll und wie ein Standpunkt in einem demokratischen Gefüge zu begreifen. Grundlage dafür wäre, dass alle Stimmen Kenntnis von dem haben, worüber sie urteilen. Da das aber nicht der Fall ist, trägt die Kritik die Verantwortung des Boten; die Aufgabe, zu berichten. Da sie nicht selten mit über das Fortleben einer Produktion entscheidet, wünscht man sich, dass das, was über den Versuch der Beschreibung des Gesehenen hinausgeht, als subjektive Wahrnehmung gekennzeichnet ist.

Das Gewicht, das der oft noch undurchdachte Eindruck einer über Nacht erschienenen Kritik durch seine schiere Spontanität bekommen kann, ist im Verhältnis zu dem Gehalt manchen Stoffes mitunter völlig unverhältnismäßig und das ist insofern schade, als dass eine komplexere Auseinandersetzung mit egal was ohnehin seltener wird – dem Aufwand, der Entstehung eines Theaterabends aber angemessen wäre.

Das Bemühen erwidern können

Fakt ist aber auch, dass manch eine Zeitung nur noch veröffentlicht, wenn es sich um einen „echten Verriss oder eine Hymne“ handelt, da sonst die Klickzahlen zu niedrig bleiben. Die Dynamik der Zuspitzung, die ein solches Vorgehen auch über das Kulturressort hinaus entfaltet, möge man sich selber ausmalen. Noch dazu werden teilweise Gagen von circa 100€ pro Kritik gezahlt – verständlich, dass die spezifische Auseinandersetzung sich da in Grenzen hält.

„Kritik ist Liebe“ steht auf den Liegestühlen vor dem Festspielhaus. Wir wünschen uns durchdacht, respektvoll und in aller Ruhe geliebt zu werden. Wenn Liebe schon bedeuten kann, vollkommen auseinander genommen zu werden, ist es schön, wenn sich Mühe gegeben wird. Und um dieses Bemühen erwidern zu können und auch die Kritik kritisieren zu können, bleibt nur eins: einfach selber ins Theater gehen.

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Jette Steckel

Jette Steckel, geboren 1982 in Berlin, studierte Schauspieltheaterregie an der Universität Hamburg. Sie ist Hausregisseurin und Mitglied der künstlerischen Leitung am Thalia Theater. Steckel inszenierte unter anderem am Schauspiel Köln, am Burgtheater Wien und am Deutschen Theater Berlin. Mit ihrer Tschechow-Aktualisierung „Die Vaterlosen“ von den Münchner Kammerspielen ist sie 2024 zum Theatertreffen eingeladen.

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