Monster dieser Welt

Hymnisch wurde dieser Abend rezipiert, jetzt ist er auch beim Berliner Theatertreffen angekommen: Roland Schimmelpfennigs Antiken-Monolog „Laios“, den Lina Beckmann als Solo performt. Die Erwartungen sind groß – der Abend löst sie ein.

Aus Lina Beckmann kriecht an diesem Abend ein Tier hervor. Erst heult sie nur auf wie ein Wolf, legt ihren Kopf in den Nacken, fletscht langsam die Zähne. Dann streckt sie ihre Arme wie Krallen empor und räkelt sich. Dazu zunächst ein hoher, unangenehmer Ton, dann treibende Percussions. Später kriecht sie auf allen Vieren umher, blutverschmiert, schwitzend, keifend, Fleisch witternd. Ein unbändiges Wesen, ein animalisches. So unbändig, dass man Angst hat, dass es über die Rampe springt und sich im Zuschauerraum umhertreibt. Als hätte man einen Schalter umgelegt, streift Beckmann das Animalische plötzlich ab, fasst sich an den Kopf und schreit: Hör auf. Es ist die Stimme der Sphinx, einem Mischwesen aus Mensch und Tier, die sich immer wieder in Laios‘ Kopf breitmacht.   

Für das fünfteilige Marathon-Projekt „ANTHROPOLIS. Ungeheuer. Stadt. Theben“ am Schauspielhaus Hamburg hat Karin Beier die klassischen Antiken-Stoffe um Antigone und Ödipus von Roland Schimmelpfennig neu übersetzen lassen. Während sie die auf ihre Aktualität hin abklopft, ist „Laios“ ein fiktiver Text, den Schimmelpfennig basierend auf den wenigen Zeilen schrieb, die es zu Laios gibt. Eine Figur, die auch in der Rezeption ein Schattendasein führte – und das, obwohl sie Ödipus‘ Vater ist. Ebenjene Figur, die verschiedenste Wissenschaften zuhauf aufgegriffen haben, weil sie das Abscheulichste tat: den eigenen Vater ermorden und die eigene Mutter schwängern. Laios jedoch herrschte jahrelang auf Thebens Thron, obwohl er nicht zu weniger Unvorstellbarem imstande war: er ließ das eigene Kind verstümmeln und aussetzen – machte jedoch in Kindheitstagen ähnliche Erfahrungen. Wer ist hier eigentlich schuld an all dem Übel, das passiert?

Der Kreislauf von Chaos und Gewalt wird fortgesetzt

Boah, langweilig, könnte man denken: all die Namen, die alle irgendwie miteinander verwurstet sind und keine*r auseinanderhalten kann, all diese „kranke Scheiße“ von damals, wie soll da Drive entstehen und ein Theaterabend, den man gern schaut? Die Antwort ist: indem man Lina Beckmann diesen Laios spielen lässt, in einem riesigen, kalten Bühnenraum, dessen graue, dreckige Wände einen morbiden Charme versprühen, mit nur wenigen Requisiten und einem absoluten Vertrauen in den Text. Beckmann erzählt so, als würde sie diese Story lässig auf einer WG-Party erzählen, völlig bewusst für die Absurdität ihrer Ausführungen. Zunächst schleicht sie in einer weißen Bluse und einer weiten, schwarzen Hose an der Rampe herum, gestikuliert wild, befragt das Publikum, versucht sich grübelnd in Ort und Zeit zu verorten, bleibt aber vage. Eine Gestrandete.

Lina Beckmann auf der Bühne mit einer Tierplastik und Steinen
Laios. ANTHROPOLIS II ©Monika Ritterhaus

Und dann hält Laios Einzug in Theben und schlagartig auch in Lina Beckmanns Körper. So unmittelbar, wie man es noch oft sehen wird an diesem Abend. Mit Armen, die breit von der Schulter hängen, dem schlurfenden Gang eines 16-jährigen Mackers und dem Blick einer Person, der man die Hybris vom Gesicht kratzen mag, tritt sie von ganz hinten auf und macht einen langen Gang nach vorn. All die Vermessenheit, die Überforderung und das Kalkül stecken in diesem Habitus bereits drin und machen bewusst, wo die Reise hingeht für diesen neuen König, der Theben befreien soll: Anstatt den Kreislauf von Chaos und Gewalt zu durchbrechen, wird er ihn fortsetzen.

Auch Luft für komische Momente

Das ist das eine. Der Clou von Schimmelpfennigs Text ist jedoch, dass er die narrativen Wege ständig mit Gedankensprüngen unterbricht, hinterfragt, überschreibt, gar auflöst. Es ist außerdem ein multiperspektiver Monolog – mit unzähligen Rollen, Stimmen und Stimmungen, Haltungen. Lina Beckmann spielt die Brüche, die es dafür braucht, mit einer Präzision, die einen umhaut: sprachlich und körperlich. Sie humpelt, torkelt, zittert, wütet, kreischt – und das im sekundenschnellen Wechsel. Aber twerkt eben auch als Iokaste, die so gern ein Kind von Laios möchte, schlägt als Laios‘ Geliebter Chrysippos (der bei Euripides tatsächlich angelegt war) flirrende Töne an, kann das Fragile, Glasklare ebenso wie das Bitterböse. Mit einer Handvoll überdimensionaler Masken verkörpert sie dann auch noch den Chor von Theben, der Sätze sagt wie „Mir geht der Arsch auf Grundeis.“ Als Seherin Pythia sitzt sie minutenlang auf einem Steinblock und hustet ab. Hustet, hustet und hustet. Setzt an, als würde sie sonst was sagen wollen, hustet wieder. Um dann lediglich einen rauchigen Satz herauszubringen: „Das wird nicht gut enden.“ Da zeigt sich am deutlichsten, dass dieser Abend sich ernst nehmen kann, aber genauso Luft für die komischen Momente lässt.  

Schimmelpfennigs „stream of consciousness“ besticht auch durch die kleinen Gegenwartssplitter: Da stehen plötzlich Dönerbuden an der Straße, fahren Leute mit Motorrollern, sitzen Leute an einem Bahndamm oder rauschen Züge vorbei, die Beckmann herrlich in ihren Erläuterungen unterbrechen. Damit behauptet der Text eine Gegenwärtigkeit, ohne sich dabei zeitlich allzu doll festzunageln. Lina Beckmann lotet diese Spannung ständig aus. Und im Wechseln der Perspektiven, der Möglichkeiten stellt sich eh die Frage, welcher Mensch besitzt die Deutungshoheit? Wer spricht und wer schweigt?

Unglaubliche Wucht

Das Video, in der ein Ensemble die Figuren, die Beckmann vorher beschrieb, plötzlich performt, hätte es dafür nicht gebraucht. In seiner Trashigkeit wirkt diese Einspielung unnötig konkret und fremd. Sie nimmt den Zuschauenden etwas von ihrer Vorstellungskraft, die vorher die ganze Zeit animiert wurde und die Beckmann herstellen kann.

Wie sich Lina Beckmann in nur anderthalb Stunden hemmungslos in diesen genialen Text wirft, ist von unglaublicher Wucht. Sinnbildlich dafür, was dieser Abend mit einem Publikum macht und wie es mitgerissen wird, ist der Applaus bei der Berlin-Premiere. Kaum geht das Licht nach dem Black wieder an, springt das Publikum von den Stühlen, applaudiert tosend, jemand steckt ihr sogar eine Rose zu. Schlammverschmiert steht Lina Beckmann an der Rampe – sichtlich gerührt. „Laios“ ist der Abend einer Ausnahmeschauspielerin, den man gesehen haben muss: „Und doch verbinden wir / mit gerader Linie / das Morgen mit dem Heute / und mit dem gestern, / denn das / ist unser Fundament“.

–––

Vincent Koch

Vincent Koch, geboren 2001, hat in Dresden erste Berührungen mit dem Theater gemacht. Seit 2021 studiert er Kultur- und Theaterwissenschaften in Leipzig. Für Theaterabende fährt er auch mal durch die ganze Republik und schreibt darüber, seit Dezember 2023 u.a. für nachtkritik.de. Er arbeitet außerdem für mephisto 97.6. – dem Lokalradio der Uni Leipzig und ist dort einer der Leiter des „Kultstatus“, der Kultur-Redaktion. Neben Theater und allem, was dazu gehört, interessiert er sich für Popkultur, Literatur, Film und Ostdeutschland.

Alle Artikel