Elliot: Okay Leute, ich war ja gestern Abend leider nicht dabei. Habe aber gehört, es gab einen Chor auf der Bühne? Der kommt im Original nicht vor, und ich kann mir auch nicht vorstellen, wo der reinpassen könnte. Könnt ihr mir das erklären?
Vincent: Rasche ist ja bekannt für seine lauten Sprechchöre. Ich glaube, es war ihm einfach wichtig, dass ein Chor vorkommt. Für ihn verkörperte er das Volk, was die Handlung einzelner Figuren kommentiert und sie auch manchmal vorangetrieben hat – ein klassischer Chor.
Leo: Für mich war es auch das Kollektiv im Sinne von: die Gesellschaft, die Kirche, die christliche Kirche vor allem, die als Chor Druck auf das Individuum ausübt. Und es wurden auch noch andere aufklärerische Texte mit deutlichen antisemitischen Tönen, unter anderem von Voltaire, eingestreut. Die Chor-Spieler*innen hatten immer eine bedrohliche Dynamik, wie sie schemenhaft aus dem Nebel von hinten aufgetreten sind und andere Personen umzingelt haben.
Grete: Elliot, Du hast doch das Drama gestern nochmal gelesen – um was geht’s eigentlich im Lessing-Original?
Elliot: Jerusalem, Dritter Kreuzeug. Wir befinden uns bei Lessing im Krieg. Nathan ist ein reicher Jude, der dem Sultan helfen soll, seinen Krieg zu finanzieren. Der ist jedoch Muslim und möchte Nathan in die Bredouille locken, indem er ihn fragt, was die wahre Religion sei. Nathan antwortet mit der berühmtem Ringparabel auf die Frage, ob das Judentum, das Christentum oder der Islam die „wahre“ Religion sei. Er steht also unter einem gewaltigen Druck von allen Seiten.
Grete: Das war die klassische Handlungsebene. Worum geht’s auf der Ideen-Ebene?
Marta: Darum, wie die drei Religionen miteinander klarkommen. Das Stück fragt: Muss es eine „richtige“ Religion geben? Oder haben nicht alle eine Daseinsberechtigung? Und können die nicht alle miteinander auch funktionieren? Gleichzeitig geht es auch um Klischees, die mit den verschiedenen Religionen einhergehen.
Elliot: Nathan wurde von Valery Tscheplanowa gespielt – einer Frau. Hat diese Besetzung geholfen, diese Klischees zu umgehen?
Leo: Naja. Man hatte zwar einen weiblichen Nathan, aber es haben dann doch die dunkelhaarigen Männer des Ensembles den Sultan und den Tempelherrn gespielt. Sie hatten auch als einzige keine Ärmel an ihrem Kostüm. So waren ihre Oberarme im Fokus, was auch schon in Richtung des Terminus „barbarisch“ geht, der in diesem Zusammenhang oft mit rassistischen Konnotationen verwendet wird. Und dann hatten wir die ganz klaren antisemitischen Bilder: der reiche Jude. Der immer alle so ein bisschen um den Finger wickelt. Der einerseits für sein Geld verachtet wird, aber gleichzeitig auch wichtig wird in der Handlung, mit seinem Geld.
Vincent: Aber Nathan war keine Frau, die sich aus ihrer dezidiert weiblichen Perspektive dazu verhält. Es war einfach eine weibliche Besetzung.
Michèle: Es ist gut, dass das inzwischen einfach gemacht wird.
Leo: Sie ist eine starke Spielerin, aber hat den Nathan schon als Person mit sehr männlichen oder patriarchalen Eigenschaften gespielt.
Michèle: Für mich war die Schwester am spannendsten. Die war so differenziert und hatte Tiefe in ihrer Figur, im Vergleich zu dem gleichförmigen Chor.
Grete: In diesem Stück stehen die Religionen miteinander in Konflikt, und es gibt klaren Antisemitismus. Wirkte das Stück auf Euch dadurch besonders heutig oder eher ein bisschen althergebracht?
Michèle: Es ist ein Stück aus dem 18. Jahrhundert über das 13. Jahrhundert. Natürlich ist es ein aktuelles Thema, aber ich frage mich, ob dieses Thema nicht einen aktuelleren Zugang gebraucht hätte. Dadurch, dass es nicht wirklich kontextualisiert oder aktuelle Bezüge hergestellt wurden, blieb es für mich einfach dieser alte Text. Zwar in einem modernen Setting, aber sonst hat der Abend mir nicht so viel Denkanstoß oder einen emotionalen Anstoß gegeben. Es war ein Lessing-Text auf einer coolen Bühne.
Leo: Das Stück bildet eigentlich perfekt ab, wie die Religionen im westlichen Mehrheitsdenken, oder auch gerade im deutschen Diskurs, gesehen werden. Wir haben klare antisemitische Motive, die wir als Publikum recht einfach decoden können. Man hat dann die muslimische Kultur, die auf diese Männlichkeit und nackte, muskelbepackte Oberarme runtergebrochen wird. Und man hat das Christliche, wo man Orgelklänge wiedererkennt und lange Roben.
Vincent: Diese Inszenierung stellt die These in den Raum, dass die friedliche Koexistenz der Religionen nicht möglich ist. Das alles war so gewaltvoll gesetzt mit dem dunklen Licht, dem dichten Nebel, und alle Dialoge wurden ob der Lautstärke fast schon mit Messerklingen geführt. So hat sich das pessimistisch angefühlt. Nathan ist für mich aber eigentlich ein optimistischer Stoff, gerade mit der Ringparabel. Die ist leider untergegangen. Das Endbild finde ich sehr plastisch fürs heute: die gesamte Bühne in rot getaucht, und Nathan ruft um Hilfe. Das war das, womit man rausgelassen wurde.
Leo: Ja, super pessimistisch. Wenn wir auf den aktuellen Zeitbezug schauen, dann sagt uns das Stück eigentlich, dass sich nicht so viel verändert hat. Auch heute werden antisemitische Stereotype reproduziert, muslimische Kultur eindimensional gezeigt. Ich finde aber, wir müssen jetzt unbedingt noch über die Ästhetik sprechen.
Marta: Ich fand die Bühne richtig geil. Mein größter Spaß war die Ästhetik. Ich habe mich so richtig wie in den Fernseher reingezoomt gefühlt. Das hat mich voll an so Science-Fiction Sachen erinnert, an „Dune“ oder so. Es war sehr episch.
Vincent: Elliot, um das kurz zu beschreiben: es gab drei Drehscheiben und dann noch vier deckenhohe Metall-Säulen, die sich auch noch mal verschieden drehen konnten.
Michèle: Sie waren so metallisch, das fand ich schick. Und innen waren LED-Leisten angebracht, wodurch sich der viele Nebel da gesammelt hat und Nebel-Wände entstanden sind. Mich hat es so krass erinnert an „2001: A Space Odyssey“, wo Monolithen auf der Erde landen.
Marta: Ein bisschen Star Wars, Berghain und Kirche. Ich fand es sehr futuristisch, aber habe nicht so ganz den Zusammenhang verstanden.
Vincent: Das Bühnenbild, gerade diese gigantischen Säulen, waren für mich wie eine eigene Instanz und haben auch eine Form von Gewalt erzählt.
Leo: Ich hatte das Gefühl: Einerseits setzt sich durch die dunkle Bühne eine recht stereotype Erzählung von diesem dunklen Mittelalter fort. Das Ensemble schritt sehr viel durch Nebel, was eigentlich voraufklärerische Klischees sind. Die Leute haben im Dunkeln gelebt, geblendet von Religion, und mal fiel ein Lichtstrahl der Aufklärung durch den Nebel. Gleichzeitig wurde das hier gebrochen durch diese schon fast futuristische Ästhetik. Und dann das Licht, was einen – wie die Aufklärung – blendet.
Vincent: Das Ästhetische hat mir einfach mehr gegeben als der Inhalt.
Marta: Im besten Fall gehen Inhalt und Ästhetik ja Hand in Hand. Hier hätte es mir aber komplett ausgereicht, das anzugucken, zu so ein bisschen experimenteller Musik und tanzende Körper zu sehen.
Grete: Apropos tanzende Körper. Was sagt ihr zum Sounddesign?
Leo: Viele Trommeln am Anfang, die es sehr nach vorne getrieben haben für mich. Es hatte manchmal auch so einen Ritualcharakter.
Vincent: So sakral fast schon an manchen Stellen.
Michèle: Das war schon krass: Sie laufen gegen die Drehscheibe in einem Rhythmus; die Musik macht einen anderen Rhythmus, und sie sprechen in einem dritten Rhythmus. Aber die Musik hat bereits vorgegeben, was man als Zuschauer*in gerade fühlen sollte. Das fand ich schade.
Marta: Für mich blieben die zwischenmenschlichen Beziehungen nicht nachvollziehbar. Ganz oft wurde gesagt, wie die sich gestalten, aber ich habe es einfach nicht gesehen.
Vincent: Und auch nicht gefühlt.
Leo: Ich habe mich bis zum Ende gefragt: What’s your point? Und ich kann es bis jetzt nicht sagen.
Marta: Für mich bleibt höchstens eine Erkenntnis: Religionen gibt es ja seit Jahrhunderten und auch mit diesen Konflikten. Klar, es gibt immer aktuelle Kontexte, aber diese Kontexte verschieben sich, je nachdem, wer oder was gerade die Oberhand hat. Aber das ist auch ein bisschen banal.
Transkript: Vincent Koch