Berlin, 23. Januar 2020: Ich bin 20 Jahre alt, studiere seit kurzem Sprachtherapie und sehe mir „In My Room“ von Falk Richter am Gorki Theater an. Auf der Bühne stehen Männerfiguren, die ihre erlernten Lebensmuster hinterfragen, die sich mit ihren Vätern und den Spuren, die diese hinterlassen haben, befassen. Sie berichten, wie sie an traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit kaputt gehen. Sie sind sensibel, ehrlich und emotional. Die Fragen, die das Stück aufwirft, hallen über Tage und Wochen in meinem Kopf nach: Wie kann man Männlichkeit in unserer Gesellschaft anders denken? Wie ist meine Beziehung zu meinem Vater und wäre diese anders, wenn ich ein Junge wäre? Wie viel von unseren Eltern steckt unweigerlich in uns?
Das Stück besteht nicht nur aus zweieinhalb spannenden Stunden mit einem interessanten Text und guten Schauspielern, sondern es geht weit über sich hinaus, spiegelt die Gesellschaft und denkt sie neu. Dieser Theaterabend festigt in mir den Entschluss, mein Studium abzubrechen und mich für ein Studium der Theaterwissenschaft einzuschreiben.
Begriff in den 1980er Jahren in den USA entstanden
Vier Jahre später: Im Zuge meines neuen Studiums schreibe ich an meiner Bachelorarbeit über die Darstellung von Männlichkeit im Theater. Während ich mich mit der Recherche dazu befasse, merke ich, wie ich anfange, vergangene Theatererfahrungen hinsichtlich der Männerfiguren durchzudenken. Welche Männlichkeiten habe ich auf deutschsprachigen Bühnen gesehen? Und wie viel Platz wurde toxischen Männerfiguren gegeben?
„Toxische Männlichkeit“ bezeichnet eine Ansammlung verschiedener Merkmale wie beispielsweise Aggressivität, Dominanz oder Misogynie, die Teil eines traditionellen Männerbildes sind. Wie die Soziologin Linn Carol schon 2021 in ihrem Text über toxische Männlichkeit erklärt, entstand dieser Begriff in den 1980er Jahren im Kontext der mythopoetischen Männerbewegung in den USA, deren Ideal von Männlichkeit auf einer Kombination von Psychoanalyse und Mythen basiert und sich sowohl gegen sensible Männlichkeit als auch gegen Hypermaskulinität richtet. Später wurde der Begriff von Feminist*innen aufgegriffen und verbreitet sich seither immer weiter.
Unhinterfragt werden aggressive Männerfiguren reproduziert
Dass Theateraufführungen nicht immer die Vielfältigkeit der Gesellschaft darstellen, ist nichts Neues. Wenn dabei aber kommentarlos, kontextlos und unhinterfragt Figuren auf die Bühne gestellt werden, die toxisch männliche Charakterzüge lediglich reproduzieren und somit konservieren, finde ich das problematisch. Mir fallen leider mehrere Inszenierungen ein, auf deren Männerfiguren das zutrifft. Beispielsweise bei „Orpheus steigt herab“ in der Regie von Martin Kušej am Burgtheater Wien 2024. Fast jede der Männerfiguren ist aggressiv und verhält sich den Frauenfiguren gegenüber herablassend, am Ende des Stückes erschießt einer der Männer seine Frau. Dieses Verhalten wird nicht kontextualisiert, sondern lediglich kommentarlos reproduziert.
In Kay Voges‘ „Du musst dich entscheiden“, uraufgeführt 2023 am Volkstheater Wien steht ein Mann auf der Bühne, der alle anderen unterbricht, laut wird, immer wieder Hinweise darauf gibt, er wäre seiner Frau gegenüber handgreiflich. Trotzdem wird er als ein Sympathieträger des Stücks inszeniert, die misogynen, respektlosen Kommentare werden zu Witzen gemacht. Das sind zwei Beispiele aus dieser Spielzeit, denke ich weiter zurück, erinnere ich mich an viele Momente, bei denen ich mir dachte: wenn jetzt noch einmal die Männerfigur, die allen anderen überlegen ist und vor der sich alle in Ehrfurcht beugen, die für uns Zusehende als Held präsentiert wird, anfängt zu schreien, schreie ich auch.
Es gibt sie, die tollen Arbeiten über Männlichkeit im Wandel
Zurück zum 23. Januar 2020, dem Abend, an dem ich ein Stück sehe, das am Anfang einer Reihe großartiger szenischer Arbeiten über toxische Männlichkeit steht. Dazu zählen zum Beispiel „Cäsars Büro“ von Kaja Dymnicki und Alexander Pschill, Premiere 2023 am Bronski und Grünberg Theater in Wien. Ein Stück, bei dem alle toxischen Männerfiguren so überzeichnet sind, dass sehr eindeutige und konkrete Kritik daran geübt wird. Oder auch der „Der Ring des Nibelungen“ in der Regie von Christopher Rüping , uraufgeführt 2022 am Schauspielhaus Zürich, für den der Autor Necati Öziri die Wagner-Opern so überarbeitet hat, dass die Figuren zu Wort kommen, die im Original keine Stimme haben und von den männlichen „Helden“ unterdrückt werden. Wotan, der einzige toxische Mann auf der Bühne, verlässt nicht nur die Bühne, sondern auch den Saal, da er keine Macht mehr hat.
Dadurch, dass es Theateraufführungen gibt, die gesellschaftliche Vielfalt tatsächlich zeigen und vorantreiben möchten, werden die Inszenierungen, die an schreienden, wütenden, aggressiven, misogynen Helden festhalten oder sie scheinbar ironisch reproduzieren, immer peinlicher. Vielleicht ist es an der Zeit, dass das Theater sich endlich endgültig von den toxischen Typen trennt.