Unsere einprägsamsten Momente

Fast drei Wochen haben die Blogger*innen Theater geschaut, darüber diskutiert, Kritiken geschrieben. Theater von Morgens bis Abends, bis zur Erschöpfung. Welche Momente sind ihnen am meisten hängen geblieben?

Michèle Tacke

Da Entscheidungsfähigkeit leider noch nie etwas war, in dem ich brillieren konnte, wage ich es, mich von der Aufgabenstellung zu entfernen, meinen einprägsamsten Moment zu beschreiben, und stattdessen fünf Momente aufzuzählen, die mir in Erinnerung bleiben werden, eingeleitet von einem Satz mit sieben Kommata (Hoch lebe der Schachtelsatz!).

Alles an „Riesenhaft in Mittelerde“

Ausflug auf den Schnürboden

Morgendliche Diskussionen von Brecht bis Beckmann (bei der x-ten Portion Rührei)

Nochmal Mittelerde, ich fands wirklich toll, und Wiederholungen sind ein Stilmittel, das ich, wie auch Schachtelsätze, sehr schätze

So viele Stücke in so kurzer Zeit zu sehen, dass man kurz vergisst, dass es ein Leben außerhalb des Theaters gibt (am Ende darf ja bekanntlich auch etwas Kitsch sein)

Marta Ivkić

Ich mag Herr der Ringe nicht. Also so gar nicht. Fünf Mal probierte ich es und gab immer innerhalb der ersten 20 Minuten auf. Es ist so schlimm, dass ich nicht einmal zum problematischen Teil komme, weil ich mich vorher schon langweile. Deswegen war ich umso überraschter, dass „Riesenhaft in Mittelerde“ – ein Stück, in dem es um eine Adaption von Herr der Ringe geht – mein diesjähriges Highlight sein würde. Wir bewegten uns auf einem Gelände, das aussah wie ein echter Märchenwald. Es wurde Tee ausgeschenkt, an jeder Ecke gab es etwas zu entdecken, und überall liefen die Schauspielenden herum, interagierten mit uns oder miteinander in ihren Rollen. 

Vincent Koch

Wenn ich an die letzten Wochen zurückdenke, kommt mir als erstes ein Moment kurz nach „Riesenhaft in Mittelerde“ in den Kopf: Da haben wir Blogger*innen und ein paar andere Zuschauer*innen spontan einen kleinen Dancefloor inmitten dieses immersiven Bühnenbildes gestartet, unfassbar beseelt nach diesem großen Spektakel. Der Abend hat mir wieder einmal gezeigt, dass im Theater für kurze Zeit eine Gemeinschaft entstehen kann, die ich in dieser Form sonst nirgendwo so spüre – und die mich über das ganze Festival immer wieder erfüllt hat. Und neben zahlreichen Weinschorlen und stundenlangen Diskussionen über die Stücke unter den Kastanienbäumen werde ich auch mein kurzes, entspanntes Gespräch mit Lina Beckmann nicht vergessen.

Elliot Douglas

Das Thema, über das ich im Laufe des Festivals die meisten Gespräche geführt habe, ist die Länge der Stücke. „Gibt es eine Pause?“ und „Es war für mich ein bisschen zu lang“ tauchten immer wieder auf. Aber wer ist daran schuld? Sind die Zuschauer*innen dümmer geworden? Sind unsere Gehirne durch TikTok, Netflix und die Pandemie einfach kaputtgegangen? Sollten wir uns doch zwingen, ein vierstündiges Stück durchzuhalten? Tatsächlich kam deswegen mein einprägsamster Moment am letzten Abend des Festivals, als ich „Übergewicht, unwichtig, UNFORM“ sah. Es war nicht mein Lieblingsstück des Festivals, aber mit 75 Minuten war es das kürzeste — und dafür war ich dankbar. Zurück zum Handy.

Leonard Haverkamp

Während Macbeth: Immer wieder Ausstöße der Ablehnung – als sich die Bühne zur Pause verdunkelte, brach es dann aus einem Zuschauer heraus: ein lautes, langgezogenes „Buh!“. Darauf Applaus. Aus Zustimmung? Um sich zu distanzieren? Bislang hatte das Publikum brav applaudiert, war vielleicht gegangen, leise nach der Pause weggeblieben. Jetzt offene Ablehnung. Legitimer Ausdruck der Empörung? Respektlos gegenüber den Spielenden, die noch auf der Bühne waren? Gegenüber anderen Besucher*innen? Muss die Bochum-Theatertreffen-Elite das aushalten? Kann man trotz Einladung in Berlin durchfallen? Welche Möglichkeiten hat das Publikum, um Ablehnung auszudrücken? Der Buhruf als Ultima Ratio? Welche Alternativen gäbe es? Was darf das Publikum? Was muss das Publikum? Hätten es andere Momente mehr verdient? Buhen immer die Falschen? Wie hören wir die, die schon wegen der Ansetzung von Macbeth wegbleiben? So viele Fragen! So viele gute Gespräche!

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Grete Götze

Grete Götze hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie deutsche und französische Literaturwissenschaft studiert und war Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau. Für den Hessischen Rundfunk arbeitet die freie Journalistin als Filmemacherin u.a. beim ARD-Kulturmagazin „titel thesen temperamente“, außerdem schreibt sie für die FAZ und nachtkritik.de. Sie hat journalistische Nachwuchsprojekte etwa bei der Theaterbiennale „Neue Stücke aus Europa“ und an der Mainzer Universität geleitet und ist Alumni des Berliner Theatertreffen-Blogs.

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