Es reicht ein Blick auf die Fotos von Karin Beiers Inszenierung von „Laios“: Da scheint eine Frau einen Marathon zu laufen. Steht sie in den ersten Bildern noch glatt geschminkt an der Rampe, perlt ihr auf den nächsten Bildern der Schweiß von der Stirn, klebt die Kleidung an ihrem Körper, färbt sich ihr Gesicht rot. Diese Frau ist Lina Beckmann, und sie steht in „Laios“ neunzig Minuten allein auf der Bühne. Wobei stehen eine Untertreibung ist: sie trägt den Abend.
Der Theatertreffen-Juror Janis El-Bira schreibt dazu: „Lina Beckmann spielt jenen Laios in einem der herausragendsten unter den auffallend vielen Soli, die dieser Theaterjahrgang hervorbrachte...“ Denn neben „Laios“ steht auch in Falk Richters „The Silence“ nur ein Schauspieler auf der Bühne. Und weil das Theatertreffen immer auch Gradmesser ist für das, was auf den Bühnen des Landes gerade en vogue ist, liegt es nah, der Frage nachzugehen, ob es sich bei dieser Setzung um einen Trend handelt.
Erstaunlich viele Ein-Personen-Stücke in der Gegenwartsdramatik
Im klassischen Dramenkanon ergibt sich die Anzahl der Spielenden aus dem Text, der einem Theaterabend zugrunde liegt. Seit es immer beliebter ist, Romane zu dramatisieren, kann die Verdichtung auf eine Figur die logische Konsequenz sein, wenn eine Figur zentral für die Handlung ist – und günstiger ist es auch als ein Ensembleabend. So lädt Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ regelrecht dazu ein, nur von einer Person gespielt zu werden. Mit der Gegenwartsdramatik verhält es sich anders. Sie spuckt seit jeher die wildesten Konzepte aus, mit Figuren, Sprache und Form umzugehen. Ich beobachte, dass auch dort gerade erstaunlich viele Ein-Personen-Stücke geschrieben und inszeniert werden.
„Prima Facie“ von Suzie Miller ist so ein Text, der gerade auf gefühlt jedem Spielplan steht. Es ist der Monolog einer Strafverteidigerin, die Opfer sexueller Übergriffe vor Gericht vertritt und dann selbst vergewaltigt wird, wonach sie sich mit einem männerdominierten Rechtssystem auseinandersetzen muss, auf dass sie davor gegenüber ihren Klient*innen akribisch gesetzt hat. Im Residenztheater München und auch am Düsseldorfer Schauspielhaus wird dieser Monolog auf der großen Bühne gespielt – und nicht auf der kleinsten, wo man Texte dieser Art zunächst vermuten würde. Und wo leider bisher die meisten gelandet sind.
Die bisherigen Randfiguren rücken in den Fokus
Das ist natürlich auch eine Ressourcenfrage, aber mir scheint, als hätte die Verlegung von Monologen auf die kleineren Spielstätten auch mit einem Misstrauen in Text und Spieler*innen zu tun. Dass „Prima Facie“ erfolgreich gespielt wird, liegt sicher auch daran, dass in diesem Text eine Frau ihre Stimme erhebt. Es geht zwar viel um Männer, aber sie stehen nicht auf der Bühne. Sie sitzen – hoffentlich zumindest – im Publikum.
Ein weiteres Beispiel ist „Die Katze Eleonore“ der Dramatikerin Caren Jeß. Ihre Geschichte einer Immobilienmaklerin, die sich aus Überforderung mit der Welt in eine Katze verwandelt, wurde im letzten Jahr zu mehreren Theaterfestivals eingeladen. Das Interesse für Figuren, die auf den ersten Blick sonderbar erscheinen, wohnt den erfolgreichen Monodramen inne oder ebenjenen Figuren, an denen man sonst vorbeilaufen würde. In erster Linie ist das ein Kompliment an die Autor*innen. Einen Text, der Drive hat, der Spaß macht, sich darin aber auch nicht verliert, sondern wirklich was zu sagen hat, der genug Material für die Spieler*innen hergibt und nicht langweilig wird, so einen Text muss man erstmal schreiben. Und es ist eine Auszeichnung für das multiperspektive, ambivalente Erzählen einer Figur, dass diese Texte gerade so regelmäßig auf die Bühne kommen.
Eine Herausforderung und Chance für Schauspieler*innen
Zurück zum Theatertreffen, zurück zu „Laios“. Der Autor Roland Schimmelpfennig schreibt für diese Figur aus dem Antiken-Kosmos überhaupt erstmal eine Biografie. In den griechischen Dramen trat er bisher als Randfigur auf. Schimmelpfenning gibt ihm eine Stimme und dampft die restlichen Figuren drastisch ein. Die spielt Lina Beckmann allesamt mit – ein Marathon eben. Einen gesamten Abend zu tragen, noch dazu auf einer großen Bühne, halte ich für eine besondere Herausforderung, der sich Schauspieler*innen erstmal stellen müssen.
Gleichzeitig bieten ihnen Monologabende eine besondere Chance: sie zeigen, dass sie auch fernab des Sicherheitsnetzes eines Ensembleabends performen können – und ihrer individuellen Spiellust und Energie Raum geben. Sie durchdringen im besten Fall eine Figur in all ihrer Ambivalenz. „Doch ihre Hauptrolle“, schreibt wieder die Theatertreffen-Jury über Lina Beckmann, „ist die des hoch konzentrierten, mitreißenden Erzählens.“ Nachdem jahrelang die gleichen Dramenfiguren lauthals ihr Leid klagen durften, scheinen jetzt die an der Reihe zu sein, deren Perspektive bisher bewusst am Rande bleiben sollte.
Rückbesinnung aufs pure Schauspiel
Schließlich ist die bewusste Entscheidung, nur eine Person auf die Bühne zu stellen, auch eine, die sich auf das pure Schauspiel zurückbesinnt. Ein-Personen-Stücke stellen autarke Spieler*innen in den Mittelpunkt und sind oft auch ausstattungstechnisch reduziert. Sie ermöglichen, eine individuelle Geschichte konzentriert und fokussiert zu erzählen, wie etwa Falk Richter in „The Silence“ und „Laios“ es tun. Sie können Selbstbefragung, Bestandsaufnahme und These zugleich sein.
Und vielleicht stehen auch gerade so viele Spieler*innen allein auf der Bühne, weil auch wir in unserem Alltag angesichts multipler Krisen am Ende des Tages auf uns selbst zurückgeworfen werden. Eine Abstraktion? Wir schauen dabei zu, wie ein Einzelner mit der Überforderung des Alltags und der Welt fertig wird. Das Tröstende ist: es passiert im Theater. Dem Ort, an dem uns die Gemeinschaft noch umgibt.