Wenn man eine Reise macht, dann kann man was erzählen!

Berliner Schüler*innen haben sich auf ins Berliner Festspielhaus zum Theatertreffen gemacht, um „Riesenhaft in Mittelerde™“ zu erleben. Hier beschreiben sie, was sie beobachtet haben.

Die Schüler*innen haben vorab Beschreibungskategorien in einem Workshop zur Aufführungsanalyse erarbeitet, der von Dr. Torsten Jost von der Freien Universität Berlin geleitet wurde. Anhand von Begriffen wie „Atmosphäre“, „Sound“ und „(De)Synchronisation“ beschreiben sie ihr Theatererlebnis. Birgit Murke, Leiterin der Literatur Initiative Berlin (LIN), hat diesen Workshop 2016 zusammen mit Yvonne Büdenhölzer und Anneke Wiesner ins Leben gerufen und organisiert ihn seither jährlich in Kooperation mit verschiedenen Berliner Schulen. Entstanden sind so kleine und feine Beschreibungsvignetten von Schüler*innen, die Eindrücke ihrer Erlebnisse im turbulenten Herzen von Mittelerde vermitteln.

Website: www.literaturinitiative.de

Aufmerksamkeit (Azad und Muhammed)

Die Aufführung „Riesenhaft in Mittelerde“ war kurz gesagt ein Cocktail aus allen Sinneseindrücken. Die Aufmerksamkeit auf einen Bereich zu beschränken war nicht nur schwer, sondern eigentlich unmöglich. Von vorne, hinten, rechts und links; immer kam etwas aus irgendeiner Richtung. Sei es ein Darsteller oder eine Darstellerin, eine singende Person oder ein galoppierendes Pferd.

Man kann das Stück als eine Abwechslung zu herkömmlichen Aufführungen bezeichnen, da es mit seiner begehbaren Gestaltung etwas Neues für mich dargestellt hat.

Atmosphäre (Leander und Leonard)

Die Atmosphäre auf dem Theatervorplatz war heiter und gesellig und die begrüßenden Worte während dem Warten haben Vorfreude auf das Stück bereitet. Alle waren gespannt darauf, was im Saal gleich wartete. Noch lange vor dem eigentlichen Stück gab es reichlich zu erkunden. Man schlenderte im Saal umher und zusammen mit der Live-Musik und der Dekoration fühlte man sich wie auf einem Marktplatz in einer Fabelwelt, voller Trubel und verschiedener Einflüsse. Von Kartentricks bis zum Aufgeschreckt werden. Die Atmosphäre war recht gelöst und locker, da man auch direkt mit den Protagonist*innen sprechen und interagieren konnte. Viele wirkten auch erstaunt und überrascht über die Anordnung und Struktur im Saal.

Als dann das Stück begann und die Protagonisten in der Menge standen, kam eine große Spannung im Saal auf. Es war, als sei man tatsächlich auf einem Platz in Mittelerde gewesen, da sich die Trennlinie zwischen Protagonist*innen und Zuschauer*innen löste und alle ein kollektiver Teil des Stücks und der Inszenierung wurden. Dadurch passte sich auch die Atmosphäre im Publikum häufig stark der des Stücks an. Schließlich stellten sich die Protagonist*innen auf eine oft amüsante Art und Weise vor, was zu einer erheiterten Atmosphäre führte. Während des Stücks waren die Zuschauer*innen allerdings ruhiger und gespannter als zuvor, wodurch das Umhergehen im Saal nicht mehr möglich war, auch weil man sich stets auf das Geschehen auf der Bühne und um sie herum konzentrieren musste, da vieles an mehreren Orten gleichzeitig passierte. Die Dynamik im Saal, die daraus resultierte, führte zu einem sehr lebendigen Ambiente und einem ganz eigenen Flair, der auch durch die unterschiedlichsten Musikeinlagen hervorgerufen wurde. Bis zu den Sitzplätzen reichte der Eindruck, da die Protagonist*innen auch immer wieder direkt vor der Tribüne agierten.

Als Zuschauer*innen fühlte man sich so ständig wie mitten im Geschehen, auch durch Effekte wie z.B. Nebel oder Laub. Auch der Hintergrund änderte sich stetig, da überall Bildschirme/Leinwände einen Hintergrund zu den verschiedenen Szenen zeigten. Die Unkonventionalität und Vielschichtigkeit des Stücks ließ teilweise eine fast skurrile Atmosphäre aufkommen und erfüllte den Raum mit einem Hauch von Kuriosität. Gleichzeitig breiteten sich auch hin und wieder flüsternde Gespräche aus, in denen die Faszination, aber auch die Eigenartigkeit der Geschehnisse geteilt wurden. Insgesamt war die Atmosphäre sehr facettenreich und variierte auch je nachdem, wo man sich befand. Spannung, aber auch Heiterkeit und Rätselhaftigkeit waren geboten.

(De-)Synchronisation (Carlotta und Anouk)

In dem Stück liefen sehr viele Szenen parallel zueinander ab bzw. fanden nicht nur auf der Bühne statt. Es war sehr erfrischend, dass man sich drehen und wenden musste. Es wurde viel gesungen, meist desynchronisiert. Die Schauspieler*innen laufen um uns herum, die Kamera springt von der einen Ecke des Raumes zur anderen, und so bewegen sich die Zuschauer*innen mit. Interaktives Theater. Körperdrehung, Körperdrehung, Körperdrehung.

Wir alle sind eins, wie eine Welle, wie ein großer Mensch. Wir sind synchron. Passen uns an die Schauspieler*innen, an die Aufführung an und werden so eins. Hin und wieder fängt ein Teil der Menge, ein Teil unseres Körpers, an zu lachen und breitet sich durch die Masse aus. Wird lauter, bis wir alle gleichzeitig den Mund öffnen und die gleichen Geräusche machen. Das einzige, was uns von vollständiger Synchronität abhält, sind die riesigen Projektionsflächen über uns. Sie zeigen die verschiedenen Perspektiven aus dem Raum, die eben doch asynchron sind und uns so zu einzelnen Individuen machen, die zu verschiedenen Gefühlen und Eindrücken gelangen, verschieden aufmerksam sind und verschieden atmen, blinzeln und reagieren. Wir finden Desynchronisation in Synchronisation.

Gefühl (Lucas und Tanja)

Die Premieren-Aufführung von „Riesenhaft in Mittelerde™“ war ein riesengroßes und für uns neues und ungewohntes Theater-Spektakel. Wir betraten über die Seitenbühne den Theaterraum und waren überwältigt von den vielen Sinnesreizen. Ein Gewusel aus Spielenden, Zuschauer*innen, Security-Mitarbeiter*innen und anderen Beteiligten. Musik, Bildschirme, einen Märchenwald, Puppen, eine richtige Bar mit Getränken zum Kaufen und unfassbar vielen Requisiten. Wir wussten nicht, ob wir Teil der Darbietung oder doch nur Zuschauende sind. Irritiert und teilweise beängstigt waren wir von dem Gedrängel im Raum und den sehr nahekommenden Spielenden. Die seitlichen Tribünen im Raum boten uns eine gewisse Sicherheit. Die Schauspieler*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen haben ihre Sache im Spiel sehr gut gemacht und haben uns überrascht, doch manchmal hatten wir das Gefühl, sie werden dann doch zur Schau gestellt und das hinterlässt bei uns ein mulmiges Gefühl und die Frage: Wie kann man es anders machen?

Haltung (René und Kuzey)

Die Schauspieler hatten verschiedene Haltungen, die ihre Charaktere lebendig wirken ließen. Einige krochen auf dem Boden oder liefen gebeugt, was möglicherweise Anstrengung oder Unterwerfung symbolisierte. Andere hatten eine strenge, aufrechte Haltung, was Autorität und Entschlossenheit ausstrahlte. Durch diese unterschiedlichen Haltungen wurden die Charaktere lebendig und die Atmosphäre des Stücks intensiviert.

Interaktion zwischen den Zuschauer*innen (Sophie und Paula)

Am Anfang des Stückes breitete sich unter den Zuschauer*innen eine lebendige Gesprächigkeit aus. Als ein Gong ertönte und die Darsteller*innen auf die Bühne traten, verstummten die Gespräche und die Zuschauer*innen tauschten Blicke aus, welche ihre Emotionen widerspiegelten. Während des Stückes zogen die Darsteller*innen durch den Raum und viele Zuschauer*innen mit ihnen. Dabei kam es teilweise zum Zusammenprallen unter Zuschauer*innen. Zwischendurch kam es immer wieder zu Applaus, welcher sich unter den Zuschauer*innen wie ein Lauffeuer verbreitete. Zum Schluss wurde von den Darsteller*innen ein Tanz auf der Bühne getanzt, woraufhin die ersten anfingen mitzutanzen, was sich unter den Zuschauer*innen ebenfalls ansteckend verbreitete.

Ort (Lotte und Josephine)

Schaperstraße 24, 10719 Berlin Wilmersdorf.

Der Ort, an dem sich das Stück abgespielt hat.

Diese groben Daten, die den Ort beschreiben sollen und dem Publikum auch das Wichtigste vermitteln, den Standort bei Google Maps nämlich, geben jedoch nicht wieder, was den Ort des Stückes wirklich ausmacht. Der genaue Ort des Geschehens setzt sich aus vielen einzelnen Koordinaten zusammen: Die des Punktes der Ansprache, die vor Beginn des Stückes draußen vor dem Haus der Berliner Festspiele gehalten wird und somit das Stück gewissermaßen schon einläutet, bevor es überhaupt anfängt. Die Koordinaten der Seitenbühne, in der das Stück überraschenderweise spielt, die Koordinaten der einzelnen Positionen der Schauspieler*innen, die sich willkürlich, aber dennoch in ihrer Rolle unter die Menschenmasse mischen, sowie die Koordinaten der Stellen der einzelnen Bühnen, die teilweise begehbar, versteckt oder direkt der Aufenthaltsort des Publikums sind.

Diese Diversität der Orte, auf die es sich zu fokussieren gilt, lassen die sonst so ruhige, symmetrische und überschaubare Seitenbühne viel individueller und chaotischer wirken, als sie in Wahrheit ist und ermöglicht dem Stück, in ihr eine fantastische Welt zu erschaffen.

Naja, zumindest ein fantastisches Durcheinander, welches vielseitiger ist als eine bloße Adresse es zu beschreiben versucht.

Soundlandschaft (Marc, Felix und Djavid)

Die Soundlandschaft während des Theaterstückes war mitreißend und vertiefend. Die leichte Hintergrundmusik während des Wartens erweckte Vorfreude und Interesse. Zu Beginn waren es Töne wie Glocken, welche sanft angestoßen wurden. Der Sound, welcher dauerhaft zu hören war, ließ in einem das Gefühl von Freiheit und Naturverbundenheit aufkommen. Es wirkte ganz so, als wäre man mitten im Theaterstück. Durch die Soundeffekte, welche verwendet wurden, als Kämpfe oder Schläge stattfanden, wurde die Dramatik in Teilen des Theaterstücks verstärkt. Des Weiteren waren alle Schauspieler*innen mit einem kleinen Mikrofon ausgestattet, welches durch die Soundboxen dafür sorgte, dass man jede*n Akteur*in verstehen konnte.

Die Musik und Soundeffekte während des Theaterstückes waren kein Tonband, sondern wurden live vor Ort gespielt und produziert. Dadurch, dass die dafür zuständigen Akteur*innen etwas oberhalb der Zuschauer angeordnet waren, fiel es kaum auf. Durch wiederholte Musikeffekte wurde den Zuschauer*innen unterbewusst klargemacht, dass ein neues Kapitel beginnt. Während des gesamten Theaterstückes war Musik unterlegt, um den Zuschauer*innen dauerhaft das Gefühl zu geben, als wäre man mitten in der Geschichte drin.

Auffällig war auch, dass es sowohl Phasen gab, in denen ein Protagonist redete und alle ihn hören konnten und sich auf ihn fokussiert haben, als auch Phasen, wie zum Beispiel beim Warten auf das Theaterstück und auch in der Pause, bei denen viele Protagonist*innen gleichzeitig murmelten und erzählten. Ersteres führte dazu, dass alle Menschen sich auf die/den Protagonist*in/en fokussieren, welche*r auch gerade redet, um der Geschichte des Theaterstückes vollständig zu folgen. Zweiteres sorgte dafür, dass man sich frei auswählen konnte, für welche Geschichte man sich interessiert und welche man weiterverfolgen möchte. In beiden Fällen war, wie zuvor schon erwähnt, auffällig, dass dauerhaft eine „natürliche“ Hintergrundmusik lief. Die führte dazu, dass man als Zuschauer*in ganz in dem Theaterstück versank. Insgesamt kann man die Soundeffekte des Theaterstückes unserer Meinung sehr stark herausheben, denn sie sind ein sehr wichtiger Teil dieses faszinierenden Stückes.

–––

LiteraturInitiative Berlin

Die LiteraturInitiative Berlin gibt seit 2002 Literaturkurse an Schulen. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Interesse an Literatur zu vermitteln, auch durch andere literarische Aktivitäten in Berlin. Geleitet wird sie von Birgit Murke.

Alle Artikel