„Ach, der verteidigt das Ich“

Interview mit Sebastian Hartmann zu „Der Einzige und sein Eigentum“

Günther Mailand: Es gibt Stimmen, die sagen, dass „Der Einzige und sein Eigentum“ ein sehr untypisches Hartmann-Stück sei, oder zumindest überraschend, weil es das Publikum ein bisschen sanfter anfasst an manchen Stellen. Es quäle die Leute vielleicht ein bisschen weniger, als man es von anderen Stücken kannte. Wie würdest du es selber einordnen?

Sebastian Hartmann: Es ist eine Frage, wie man sich nach 10 Jahren Arbeit von einem Haus verabschiedet – es folgt ja eine neue Intendanz, für die ich erst mal nicht arbeiten werde. Und ich hatte eigentlich nicht so viel Lust, da noch mal mit so einem Stoff rauszugehen, den man so im Allgemeinen kennt. Also eine Verwandlung eines Klassikers. Nach vielen Gesprächen hat die Dramaturgie „Der Einzige und sein Eigentum“ von Max Stirner vorgeschlagen, den ich eigentlich nur aus der Zeit kannte, als ich hier in Berlin Abitur machte. Wir haben das am Immanuel Kant-Gymnasium so heimlich hin und her gereicht und gesagt, guck mal hier, das sind doch mal anarchistische Gedanken, nur auf sich selbst zu vertrauen und aus diesem Kollektiv rauszukommen. Im verwalteten Sozialismus hatte der Individualitätsgedanke einen völlig anderen Anspruch. Da war das Individuum, was sich da herausschälen sollte, gedanklich eine ganz andere Anarchie. Dass das so verpönt war von Marx und Engels, die ja tatsächlich eine sehr lange Abhandlung darüber geschrieben haben, reizte uns da natürlich noch mehr. Man war ein Stück weit subversiv, wenn man Stirner las. Und dass ich das über 30 Jahre oder länger vergessen hatte, war mir gar nicht bewusst. 

GM: Wie war es, den Stoff heute erneut in Augenschein zu nehmen?

SH: Als ich mich wieder damit beschäftigt hatte, merkte ich, wie gefährlich der Stoff war. Dass er auf der einen Seite als kapitalistischer Grundgedanke gewertet werden kann: Nichts geht über mich, ich bin mir mein eigenes Recht. Man muss nur ein Stück weit tiefer lesen, weil Stirner nämlich was anderes meint. Er meint nämlich, über die Gespenster der Vergangenheit, durch ein eigenständiges Ich herauszutreten und sich eben nicht in Parteien zu organisieren und in gesellschaftlichen, sozial und psychologisch geprägten Kontexten, die immer wieder die gleichen Probleme zeitigen. Probleme unserer Gegenwart sind Krieg, soziale Verrohung und die Ellenbogengesellschaft. Und das hat nichts mit einem eigenen Ich zu tun, sondern mit einem gedanklichen Mainstream von „wer kommt wie vor“. Und das wirkliche, ehrliche Ich, das sich nicht in Parteigedanken organisiert, sondern eher vielleicht in Vereinen, übersteigt das. Das war der inhaltliche Ansatz. 

GM: Wenn ich das richtig verstehe, lest ihr Stirner emanzipativ oder zieht zumindest Elemente heraus, die seinerzeit emanzipativ funktioniert haben?

SH: Naja, wir vergessen immer, dass man damals das Ich ganz anders formulieren musste, als du aus der Aufklärung gekommen bist. Das ist ja eine Zeit, die völlig anders funktionierte als unsere überbevölkerte Hightech-Hochgeschwindigkeitsgesellschaft. Gedanken- und Thesenräume waren damals viel physischer und körperlicher, viel mehr diskutiert. Wir sind heute ein Ich das sich über Google verwaltet und ununterbrochen Informationen hat. Heute können wir alles schnell nachgucken und zack hab ich sozusagen ein gefühltes Halbwissen, hab es aber nicht organisiert, verinnerlicht und verkörperlicht. Also ich bin gar nicht in meiner These. Stirners streitbare These findet nicht nur hier oben statt, sondern er hat sich tatsächlich gesellschaftlich was überlegt. Das ist allerdings eine philosophische These und keine Anleitung. Bei uns ist es heute so, dass wir Stirner wie eine Anleitung lesen und oft Wahrheit und Nicht-Wahrheit testen. Anstatt auf die Frage einzugehen, was sich gedanklich dahinter verbergen oder aufbauen würde, im Sinne von wie wichtig wäre tatsächlich eine Emanzipation von Religion, Staat, Gesellschaft und Eltern. Und ich rede nicht von irgendwelchen schlimmen, merkwürdigen Sachen wie Reichsbürgern oder so. Sondern von einer klugen, gedanklichen These, wie sich vielleicht nach dem 2. Weltkrieg Beckett oder Handke verhalten haben, die sagten, wir dürfen keine psychologischen Stücke mehr schreiben, weil uns die bürgerliche Psychologie in den Krieg getrieben hat. Und dass wir das so schnell vergessen, wie sozusagen unser „haben wollen“ als kapitalistische Gesellschaft immer wieder dahin treibt, wo wir jetzt gerade gestrandet sind. Das würde ich bei Stirner einfach mal genauer gelesen haben wollen als die Plattitüde „Ach, der verteidigt das Ich“. Es gab natürlich Diskussionen bei uns in den Proben, aber die waren dann schnell geklärt.

GM: Ich finde es interessant, dass man Stirners Feier des Einzelnen je nach Kontext emanzipativ oder eben total affirmativ lesen kann und dass das vom System und vom geschichtlichen Moment abhängt. Es erklärt sich von selbst, weshalb man unter Bedingungen der DDR oder des Stalinismus die Verteidigung des Individuums hochhält, aber was bedeutet Stirner 2023 im neoliberalen Kapitalismus? Ich vermute, dass 99 Prozent der Leute, die das Stück sehen, es als Kritik am individualistischen Kapitalismus lesen.

SH: Glaube ich nicht, vielleicht 50 Prozent. Die anderen sehen es vielleicht als Vorgang, sich damit überhaupt mal auseinanderzusetzen. Ich fand die Leute interessanter, die das als Ereignis sehen, sich radikal von den Fesseln der Vergangenheit zu lösen. Also sich nicht zum Instrument einer vorhandenen Mainstream-Psychologie zu machen. Sprich zum Konsumprodukt, was ja letztendlich in ein Ich zurückgedrängt ist, aber das bedeutet einfach ein anderes Ich. So wie vielleicht auch in 200 Jahren der Begriff „Demokratie“ nochmal eine andere Renaissance haben wird als der gequälte Gaul, den wir jetzt hier in unserer Gesellschaft vor uns hertragen.

GM: Beziehst du dich mit „Fesseln der Vergangenheit“ auf sozialistische Fehltritte, oder was genau ist damit gemeint?

SH: Naja, Fehltritte – ich würde mal „Versuche“ sagen. Dass der Mensch versucht, anders auf diesem Globus klarzukommen als nur allein in diesem kapitalistischen System, das sich ja aus einer mittelalterlichen Feudalstruktur entwickelt hat und über eine gewisse Zeit, zumindest nach dem 2. Weltkrieg, auch eine Renaissance hatte  die hier in Europa an großem Wohlstand ablesbar war. Da hat man sich wohl auf dem Rücken anderer Teile der Welt gefühlt. Nein, nein, mich interessiert keine Kritik an irgendein Gesellschaftssystem, mich interessiert eine Zustandsbeschreibung vom Heutigen hier und jetzt. Und das war in dem Stoff gar nicht mal so hochpolitisch konnotiert, wie wir gerade sprechen. Sondern der Grundsound. Der Modus, den wir beim Proben angeschaltet haben, war tatsächlich ein Liebesakt. Nicht umsonst singen die da am Ende „Aus Liebe“. Ich halte sowieso nicht so viel davon, Fahnen auf der Bühne zu schwingen mit einer Gesinnung. Weil ich glaube, dass die Kunst sich anders zeigen soll als in einer Debatte.

GM: Wenn ich dich richtig verstanden habe, würdest du sagen, du möchtest mit deiner Arbeit weniger ein Resultat liefern, im Sinne einer Kritik, die dem Publikum eine bestimmte Stoßrichtung nahelegen will, sondern du bildest erstmal ab und der Rest passiert bei den Leuten selber. Meine Frage wäre, kann ich die Abbildung von der Kritik trennen? Ich muss an die Phrase „du kannst nicht nicht kommunizieren“ denken. Wenn ich beispielsweise ein Musical des Individualistischen auf die Bühne bringe, dann ist das ein Statement, da kommt man gar nicht raus. Was hast du für Gedanken dazu, also zu diesem Verhältnis, das ich ansprechen wollte. Du hattest Marx und Engels auch schon erwähnt. Es heißt, dass die kritische Abarbeitung an Stirner von Karl Marx diesen wesentlich zur Entwicklung seiner Theorie des Historischen Materialismus angeregt habe.

SH: Das ist wohl wahr. Aber damit haben wir uns tatsächlich so…(überlegt)…also, wir haben uns damit auseinandergesetzt. Natürlich. Aber der Abend an sich gibt den Anstoß in das Denken. So wie mich eine Musik anregt, in eine bestimmte Stimmung zu kommen, oder mich ein Bild anregt, über bestimmte Sachen nachzudenken, fange ich dann ja an, mit mir selber mit den Informationen umzugehen. Ich kann nicht auf der Bühne auftreten als jemand, der für andere Leute denkt. Oder sagen wir so, ich möchte das auch gar nicht. Sondern ich möchte gemeinsam mit Leuten denken. Und dass das von der Kritik dann immer wieder auf diese Ebene der Auseinandersetzung oder Provokation bis hin zu Verstörung oder Irritation gebracht wird…es ist so, dass ich wahrnehmen musste, dass bestimmte Zugriffe auf bestimmte Stoffe sowas wie Irritation auslösen. Das halte ich für einen gesunden Prozess einer gegenseitigen Wahrnehmung. Ich finde Schunkelei schon schwieriger. Wenn Sachen zu leicht partizipierbar sind oder zu leicht zu lesen sind und man anfängt, sich darin wohlzufühlen. Also, Unterhaltung ist nicht mein Job. Vielleicht sind bestimmte Szenen für einen Augenblick mal unterhaltend, aber damit spielt man in der Regie. Dass man sagt, die Szene, die jetzt kommt, ist ein Stück weit kulinarisch, die geht gut runter, aber dafür konterkarieren wir das damit. Oder hier brauche ich einen Bruch.

GM: Das geschieht nach meiner Auffassung auch in „Der Einzige und sein Eigentum“ an Stellen, in denen eine Art Showeinlage getanzt wird, alle glitzern und es ist eigentlich aber eine schrecklich entstellte Darbietung.

SH: Vielleicht! Das sind unscharfe Momente. Sie polarisieren auch. Manche Leute sagen „tolle Choreografie“, andere sagen „Oh Gott“. Und das nennt man dann, glaube ich, changieren oder die Ränder eben nicht so scharf zu umreißen. Also ich bin da eher Expressionist, von mir aus auch Impressionist. Ich male nicht naturalistisch auf Bühnen. Ich gehe nicht in eine Genauigkeit in den Vorgängen, um gleichzeitig viele mögliche Thesen zuzulassen, um den Raum stabil in der Kunst zu halten und nicht in der Aussage. Denn Kunst hat in sich nur die Aussage »Kunst«. Sie will weder perfekt sein, noch will sie etwas können. Sie will aber auch nicht nichts können, sie bewegt sich im Bereich der Intuition. Und dem Zuschauer die eigene Intuition beim Lesen der Bilder zuzutrauen, finde ich persönlich wichtiger als ihm das Sandmännchen oder die Tagesthemen fortzusetzen und zu sagen „so ist es“.

GM: Ich hätte noch eine Infragestellung: Ich frage mich, ob dieses Festhalten am Individuum, am mündigen Einzelnen, der aufbegehren kann, ob das nicht verkennt, dass der einzelne Mensch den Strukturen unterliegt. Wenn man mit einer marxistischen Perspektive darauf blickt, würde man sagen, das Sein bestimmt das Bewusstsein. Inwiefern ist der Einzelne handlungsfähig in einer Struktur, die das Handeln gewissermaßen produziert?

SH: Das ist eine interessante Frage. Da kann ich dann nur sagen, das muss jeder für sich selber wissen. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass jeder für sich klären muss, wie weit er in bestimmten Strukturen leben möchte oder nicht. Ab wann er aktiv werden muss, möglicherweise in Zusammenhang mit anderen Menschen, was für mich aber nicht potenziell Partei oder gesellschaftliche Gegenströmung bedeutet. Sondern eher Menschen, die sich gegenseitiges Interesse für etwas bekunden. Und ich könnte mir sogar vorstellen, dass es viele Bereiche gibt in dieser Gesellschaft, die sich anders finden würden, wenn es dafür Wege gäbe. Also Marx hat ja geschrieben, dass die Widersprüche entsprechend hoch werden müssen, bevor es zu einer revolutionären Situation kommt. Ich kann sie mir eigentlich kaum mehr vorstellen, als wie sie im Moment sind. Wir sind kurz vor einer atomaren Auseinandersetzung, wir errichten Grenzen überall. Seit dem Zusammenbruch dieser Polarität vom sozialistischen und kapitalistischen Weltsystem haben wir mehr Kriege als je zuvor. Diese Mauer, die hier in Berlin eingerissen worden ist, ist überall woanders entstanden.

GM: Die nächste Frage ist ganz einfach: Wenn du dem zeitgenössischen Theater ein Wort als Überschrift verpassen würdest, welches wäre das?

SH: Kunst. Also als Empfehlung, ich würde dem zeitgenössischen Theater mehr Kunst empfehlen. Ich finde das zeitgenössische Theater auf vielen Ebenen recht lahm und sehr liberal. Ich mag dieses ganze „Wir-können-alles-Theater“ nicht.

GM: Zum Schluss nochmal Raum für Selbstkritik: Was ist bei „Der Einzige und sein Eigentum“ misslungen? Was fehlt dem Stück?

SH: (Denkt nach). Das ist eine gute Frage. Wenn du mich das bei anderen Theaterabenden fragen würdest, könnte ich anders ausholen. Da das hier, gerade auch in der Zusammenarbeit mit dem Musiker PC Nackt, so eine geschlossene Formation ist und es auch von so einer großen Liebe des Ensembles getragen wird, die sehr mutig diesem Gedanken gefolgt sind, einen Philosophen auf der Bühne in eine musikalische Sprache zu übersetzen, fände ich es schade von einem Misslingen zu sprechen. Vielleicht ist mir misslungen, dass es nicht länger dauert. Dass es keinen zweiten Teil gibt, der nochmal zwei Stunden dauert. Vielleicht ist es mir misslungen, noch mehr Menschen ins Boot zu holen, die mitsingen. Vielleicht gibt es nicht die Szene, die zum Szenenapplaus anregt. Vielleicht gibt es den Rhythmus nicht, vielleicht ist das nicht gut handwerklich gemacht. (Denkt nach). Kann ich die Frage schwer beantworten.

GM: Ist auch eine Antwort. Sebastian, vielen Dank dir!

SH: Vielen herzlichen Dank, Günther, hat mir einen Riesenspaß gemacht.

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