Pools und Häuser und eine Riesenmaria

Was bleibt nach dem Besuch von bisher sieben bemerkenswerten Inszenierungen des Theatertreffens 2023 hängen? In meinem Kopf schwirren nicht nur Worte und Diskurse, sondern auch Bilder, die Tage nach den Aufführungen noch präsent sind.

Ein Schaukasten, umrahmt von einem Lichtkasten – als hätte man zuhause den Beamer angeschaltet und würde eine Serie streamen, sieben Stunden lang, weil die Handlung mitreißt und sich an verschiedenen Orten abspielt: einem gemütlichen Mittelstandswohnzimmer mit weißen Polstersofas, dahinter die Skyline von New York. Später auf dem Land: ein Baum, so groß wie Bäume im echten Leben, hinter ihm die Fassade eines Landhauses, auf dem Boden rote Blätter. Zwischendrin eine Straße, auf der Menschen sich nicht nur bewegen, sondern auch leben, der Asphalt gespickt mit Müll. Philipp Stölzl – Regisseur und gelernter Bühnenbilder – schafft mit seiner Inszenierung von „Das Vermächtnis“ detaillierte Bilder, die die Charaktere bespielen. 

Einen Tag später verwandeln Nikola Knezević (Bühne) und Anne Meeussen (Licht) die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in ein Show-Schwimmbad mit zwei Wasserkästen, die hinter und rechts vom Hauptpool stehen und die von den Schauspieler*innen bespielt werden. Die Körper und Gesichter der Performenden in „Ophelia’s Got Talent“ werden immer wieder in Nahaufnahmen auf die zwei Leinwände, die im Hochformat links und rechts neben der Bühne hängen, projiziert. Ein knallgelber Helikopter schwebt später auf die Bühne, den das Ensemble besteigt. Der Hintergrund ändert immer wieder seine Farbe und vermittelt durch pastellmoderne Töne unterschiedliche Stimmungen. 

Im Deutschen Theater laufen die Spieler*innen in Sebastian Hartmanns „Der Einzige und sein Eigentum“ gegen die sich permanent drehende, graue, gigantische Riesensäule an – als wären sie in einem Hamsterrad gefangen. Die Wirkung des Ausbleibens von Stillstand verbindet sich mit Texten, in welchen über das Individuum und das Kollektiv philosophiert wird. Dieses Bühnenbild entfaltet seine Wirkung verglichen mit den beiden Vorhergehenden nicht durch Details, sondern durch Größe und Bewegung.

Häuser auf Bühnen scheinen im Trend zu liegen

Nicht nur in „Das Vermächtnis“ stand ein Haus auf der Bühne des Berliner Festspielhauses, sondern auch bei „Nora“ – doch hier steht es kopf und ist nicht nur Kulisse, sondern Spielort. Die Spieler*innen klettern in die obere Etage, hängen zwischen Fenstern, rutschen die Konstruktion herunter. Das kopfstehende Haus – konzipiert von Bühnenbildnerin Viva Schudt – sorgt für mehr horizontale Spielfläche, die das Ensemble, allen voran Nora, die mühelos durch „ihr“ Haus navigiert, nutzt. 

Während Zuschauer*innen bei „Nora“ auch Einblicke ins Haus bekommen, entschied sich Bühnenbildner Theun Mosk in „Bus nach Dachau“ zwar für eine große Holzkiste auf die Bühne, dessen Inneres den Zuschauenden jedoch nur in der letzten Szene gezeigt wird. Man hört Gespräche und Schreie aus der überdimensional großen Holzkiste, sieht jedoch nicht, was darin passiert. Die hellen Holzwände nutzt das Theaterkollektiv De Warme Winkel als Projektionsfläche – Spieler*innen betreten das Konstrukt mit Kamera. Dann werden Holzbetten, auf denen Inhaftierte mit gestreiften Pyjamas liegen, an die Außenwand projiziert. Doch sind die Aufnahmen überhaupt live? Oder ist die Intention hier der Schein? Das Gehirn mag Muster und Stringenz – es füllt die Leerstellen, die nicht gezeigt werden, schafft Verbindungen – unabhängig davon, ob diese der Wirklichkeit entsprechen oder nicht. Die Inszenierung über Erinnerung eröffnet dadurch eine Möglichkeit für Reflexion und Interpretation, die die Option bietet, dies individuell zu hinterfragen. 

Dekonstruktion in Echtzeit

Gegen die Riesenbilder der genannten Inszenierungen entspricht das Bühnen-Set-Up von Matthias Koch in der Inszenierung „Ein Sommernachtstraum“ im HAU1 dem, was Menschen, die selten Theater besucht haben oder Amateurtheater gewohnt sind, erwarten würden: einfache, kleine Requisiten, Bänke, freie Bodenfläche. Nach so viel Grandiosität wirkt dieses Bühnenbild fast minimalistisch, obwohl es ziemlich fragmentiert ist – und verwandelt sich während der Aufführung vom Klassenraum der Lehrer*innen zum Zauberwald, der durch Schatten- und Lichtspiele Wirkung entfaltet.

In „Die Eingeborenen von Maria Blut“ ist am Ende der Inszenierung von Jessica Rockstrohs Bühnenkonzeption nur noch wenig übrig. Die über fünf Meter große Mariafigur in rotem Gewand mit einem Heiligenschein, der seine Farbe von Szene zu Szene  ändert, wird von Bühnentechniker*innen zerlegt und weggetragen, nachdem sie Bluttränen weinte. Nur noch das schwarze, große Podest bleibt stehen. Ihr blauer Schleier, der zu Beginn von zwei die Marienstatue rahmenden Holzengeln über die gesamte Bühne gespannt wurde, liegt auf dem Boden. Zuvor hatte das Publikum jedoch genug Zeit, um dieses große starre Bild, das genauso gut ein Albumcover sein könnte und je nach Szene in ein anderes Licht gehüllt wird, auf sich wirken zu lassen. Auch wer der Handlung dieses Stücks nicht in jedem Moment folgen kann, wird sich an die stumme Maria erinnern. Die Spieler*innen – in uniformen korall-farbenen T-Shirts und Stoffhosen mit Porzellanmasken – nutzen den Bühnenraum vor der Statue, um das von Maria Lazar wahrgenommene Dorfleben in Österreich im Jahr 1935 auszuspielen, das das unter Lazars Beobachtung in den Faschismus kippt.

Wirkung versus Verantwortung

Was am diesjährigen Theatertreffen bisher bemerkenswert war: die Vielseitigkeit der Bühnenbilder der eingeladenen Inszenierungen. Jedoch wurde außerhalb der abendlichen Theateraufführungen unterschiedlichen Runden und Gruppen diskutiert: Ist es angemessen, dass die Requisiten und Bühnenteile mit LKWs durch die Republik nach Berlin – und dann wieder zurück in das Zuhause-Theater – gefahren werden? Vor allem, wenn dies mit enormen Kosten, die sich auch auf Ticketpreise widerspiegeln und vielen den Zugang zum Festival verwehren, verbunden ist? Ist das verantwortbar in Zeiten der Klimakrise? Was wiegt stärker: das Zeigen von bemerkenswerten Stücken oder die gesellschaftlichen und ökologischen Aspekte außerhalb des Theaters? 

Bei mir hängen die Bilder nach. Ich fühle mich inspiriert von den vielseitigen visuellen Eindrücken. Und ich kann das erwähnte Dilemma nicht lösen, gehe jedoch davon aus, dass sich auch die Entscheider*innen in Institutionen und Theatern diese Fragen in Zukunft stellen werden und müssen. Und vielleicht führt dies letztendlich zu noch kreativeren Zugängen zu der Frage, wie Bühnenbilder der Zukunft zeitgleich wirkungsvoll und gesellschaftlich verantwortungsvoll sein können. 

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