Der erste Schrei

Sie steht auf einem Podest vor dem Haus der Berliner Festspiele.

Ihr langes schwarz-weißes Kleid flattert im Wind, sie hält es von ihrem Körper weg, mit ausgestreckten Armen. Damit die Gesichter von 1.280 Menschen, die in Belarus im Gefängnis sitzen erkennbar sind. „I’m from Belarus, not from Weißrussland“, sagt Jana Shostak am 12. Mai immer wieder, während die Menschen, die gerade den ersten Teil von Philipp Stölzls „Vermächtnis“ gesehen haben, in Gespräche vertieft sind.

Die wenigsten richten den Blick lange auf die Performerin, die mitten zwischen ihnen steht. Auch schreit niemand, als sie auffordert, das in Solidarität für belarussischen Aktivist*innen, Politiker*innen und Künstler*innen, die hinter Gittern sitzen zu tun. Alleine schreit sie ihre Verzweiflung heraus, mit klarer Stimme, bevor sie Luft holt und dann wieder ansetzt. Ihre Performance reflektiert gekonnt, was in der Gesellschaft schiefläuft: Oft finden Schicksale, die weit weg scheinen, kein Gehör, obwohl sie auch das Hier und Jetzt betreffen. 

Gleiche Performance, anderer Tag, andere Menschen, andere Wirkung: Am 15. Mai führt Jana Shostak „1 Minute Scream“ erneut auf, inzwischen zum dritten Mal. Vor dem Festspielhaus sitzen und stehen weniger Menschen, sie sind jünger und nicht so schick gekleidet. Sie warten auf den Einlass zur Performance „Cyber Elf“. Als die Künstlerin diesmal zum Schreien einlädt, fragt ein Mann seinen Stehnachbar: „Sollen wir mitmachen?“. Wenige Sekunden später schließen sich weitere Menschen dem lauten Protest an. Einige werden Teil der Performance, transformieren sie für diejenigen, die zuschauen. 

Innerhalb von wenigen Minuten eröffnet Shostak einen Raum für Interpretation und übt gleichzeitig Kritik an den Dynamiken der Gesellschaft, der Ignoranz. Sie zeigt, wie einfach es ist, wegzuschauen und macht darauf aufmerksam, dass es Mutige braucht, die den ersten Schrei machen, um eine Situation zu transformieren. Stark, kurz, berührend.

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Klaudia Lagozinski

Klaudia Lagozinski, Jahrgang 1994, spricht an den meisten Tagen drei Sprachen, liebt das Reisen und mag das Schreiben. Sie arbeitet als Nachrichtenchefin für taz.de und als freie Kulturjournalistin. Vor wenigen Jahren rutschte sie in ein Dasein als Digital Nomad ab und fühlt sich seitdem in dieser Rolle ziemlich wohl. Zuhause ist für sie kein Ort, sondern ein Gefühl Sie studierte Sozial- und Kulturanthropologie, Theater und Kulturjournalismus in Berlin und ging während dieser Zeit häufig ins Theater. Außerdem studierte sie in Uppsala, Schweden, und verbrachte dort viel Zeit in Wäldern und am Lagerfeuer.
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Klaudia Lagozinski, born in 1994, speaks three languages most days, loves to travel and enjoys writing. She works at the news desk for taz.de and as a freelance culture journalist. A few years ago, she slipped into an existence as a digital nomad and has felt quite comfortable in this role ever since. For her, home is not a place, but a feeling. She studied social and Cultural Anthropology, Theatre and Cultural Journalism in Berlin and was a frequent theatregoer. She also studied in Uppsala, Sweden, and spent a lot of time there in forests and around campfires.

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