Sie steht auf einem Podest vor dem Haus der Berliner Festspiele.
Ihr langes schwarz-weißes Kleid flattert im Wind, sie hält es von ihrem Körper weg, mit ausgestreckten Armen. Damit die Gesichter von 1.280 Menschen, die in Belarus im Gefängnis sitzen erkennbar sind. „I’m from Belarus, not from Weißrussland“, sagt Jana Shostak am 12. Mai immer wieder, während die Menschen, die gerade den ersten Teil von Philipp Stölzls „Vermächtnis“ gesehen haben, in Gespräche vertieft sind.
Die wenigsten richten den Blick lange auf die Performerin, die mitten zwischen ihnen steht. Auch schreit niemand, als sie auffordert, das in Solidarität für belarussischen Aktivist*innen, Politiker*innen und Künstler*innen, die hinter Gittern sitzen zu tun. Alleine schreit sie ihre Verzweiflung heraus, mit klarer Stimme, bevor sie Luft holt und dann wieder ansetzt. Ihre Performance reflektiert gekonnt, was in der Gesellschaft schiefläuft: Oft finden Schicksale, die weit weg scheinen, kein Gehör, obwohl sie auch das Hier und Jetzt betreffen.
Gleiche Performance, anderer Tag, andere Menschen, andere Wirkung: Am 15. Mai führt Jana Shostak „1 Minute Scream“ erneut auf, inzwischen zum dritten Mal. Vor dem Festspielhaus sitzen und stehen weniger Menschen, sie sind jünger und nicht so schick gekleidet. Sie warten auf den Einlass zur Performance „Cyber Elf“. Als die Künstlerin diesmal zum Schreien einlädt, fragt ein Mann seinen Stehnachbar: „Sollen wir mitmachen?“. Wenige Sekunden später schließen sich weitere Menschen dem lauten Protest an. Einige werden Teil der Performance, transformieren sie für diejenigen, die zuschauen.
Innerhalb von wenigen Minuten eröffnet Shostak einen Raum für Interpretation und übt gleichzeitig Kritik an den Dynamiken der Gesellschaft, der Ignoranz. Sie zeigt, wie einfach es ist, wegzuschauen und macht darauf aufmerksam, dass es Mutige braucht, die den ersten Schrei machen, um eine Situation zu transformieren. Stark, kurz, berührend.