Kultur der Solidarität

Zwei Veranstaltungen des Theatertreffens widmeten sich am vergangenen Sonntag der Situation in Belarus.

1446 Personen wurden im Jahr 2022 in politisch motivierten Strafverfahren in Belarus verurteilt: 1284 Männer und 162 Frauen, darunter rund 140 Kulturschaffende, rechnete die in Wien lebende Philosophin Olga Šparaga in der Podiumsdiskussion „People without Country, Country without People. Belarusian Cultural Opposition“ vor. Ein Prozent aller belarusischen Bürger_innen befinden sich derzeit in Gefängnissen und Strafkolonien, ergänzt die Kuratorin und Forscherin Antonina Stebur. Jeder hat jemanden in seiner Familie oder in seinem Freundeskreis, der vom Regime unterdrückt wurde oder wird, sagt der im polnischen Exil lebende Performer Igor Shugaleev. Seit der Revolution von 2020 haben bereits eine Million Menschen das Land verlassen. Die meisten von ihnen leben heute in EU-Ländern, vor allem in Polen und Deutschland. Seit dem großflächigen Krieg in der Ukraine ist die Situation in Belarus in den Hintergrund gerückt, doch wie Stebur betont, hängen in der globalisierten Welt alle Ereignisse miteinander zusammen. Die fundamentalistische Regierung des Iran, die ihre eigenen Bürgerinnen unterdrückt und ermordet, unterstützt gleichzeitig Russland ebenso wie Lukaschenko, der Oppositionelle ins Gefängnis sperrt und gleichzeitig Waffen für die russische Armee über Belarus transportieren lässt.

Diejenigen, die in Belarus noch bleiben, versuchen zu überleben. Diejenigen, die das Land verlassen haben, sprechen und schreiben über die Situation in ihrem Herkunftsland , damit es im Blickfeld bleibt. Shugaleev stellt sich dieser Herausforderung in einer gemeinsam mit dem Künstler Sergey Shabohin entwickelten Performance mit dem Titel „375 0908 2334 – The body you are calling is currently not available“, die im Anschluss an die Podiumsdiskussion am Sonntag gezeigt wurde. Er bietet dem Publikum eine gemeinsame Geste an, um auf die Situation politischer Gefangener aufmerksam zu machen. Der Künstler kniet mit gesenktem Kopf, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, eine Stimme aus einem Lautsprecher erklärt, dass er die Position einnimmt, die inhaftierte Oppositionelle in belarusischen Gefängnissen zu halten gezwungen sind. 

Während der Vorführung wird die Zeit heruntergezählt: 60 Minuten. Mit warmer Stimme fordert Shugaleev das Publikum auf, sich ihm anzuschließen, zu reden oder diese Stunde schweigend abzuwarten. Ein paar Menschen knien mit ihm nieder, einer ist aus Taiwan, ein anderer aus Hongkong, jemand aus Deutschland. Der Rest der Performance-Teilnehmer_innen bleibt auf ihren Plätzen.

Auf der Website des Projekts, das der Künstler bereits an vielen Orten und zu vielen Anlässen gezeigt hat, heißt es, er wolle Empathie für die Menschen in Belarus wecken. Shugaleev selbst fühlt sich ihnen verpflichtet und empfindet sogar Schuldgefühle, weil er nicht bei ihnen ist. Er definiert dies als „Überlebensschuld-Syndrom“. Die Performance ist ein Versuch, sich von seinem sicheren Ort aus mit der Protestbewegung zu solidarisieren. Die ersten Ziffern im Titel der Performance beziehen sich auf die Vorwahl für Belarus, die nächsten Ziffern auf den Beginn der vier Tage andauernden Proteste nach den manipulierten Wahlen am 9. August 2020  und die letzten schließlich auf den Paragraphen des Strafgesetzbuches, der die Gewalt gegen die Organisator_innen und Teilnehmer_innen der Demonstrationen aus Sicht des Regimes legitimiert. Diese letzten Ziffern des Titels 2334 stehen auch für die über 40.000 Menschen, die während der Proteste auf Grundlage dieses Paragraphen verhaftet wurden. 

Die minimalistische Geste des belarusischen Performers ist ein bescheidenes, aber ausdrucksstarkes Gegengewicht zu den aufwendigen Inszenierungen auf der großen Festivalbühne der Berliner Festspiele. Sie erinnert daran, wie man Kunst nutzen kann, nämlich als eine Möglichkeit, sich in Menschen einzufühlen, die nicht das Glück haben, an einem sicheren Ort zu leben, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken und sich die Zeit zu nehmen, sie nicht zu übersehen.

Viele Menschen, die direkt von der Situation in Belarus betroffen sind, nutzen die beiden Sonntagsveranstaltungen (Diskussion und Performance) als Gelegenheit, sich zu treffen und ihre Erfahrungen mit dem Leben im Exil auszutauschen. Unter den Diskutierenden sind z.B. der Künstler Uladzimir Hramovich, der derzeit auf ein Visum wartet, das ihm einen Aufenthalt in Deutschland ermöglicht, oder Lizavieta Michalchuk, Leiterin des unabhängigen Kulturraums in Brest Prastora KH, der inzwischen nur noch online funktioniert. Die meisten belarusischen Kulturschaffenden versuchen trotz der vielen Schwierigkeiten, die mit der Legalisierung ihres Aufenthalts in der EU verbunden sind, ihre Arbeit außerhalb ihres Herkunftslandes fortzusetzen.


Auf die Frage, wie wir alle, die wir an der Diskussion und der Performance teilgenommen haben, die Gesellschaft in Belarus unterstützen können, lautet die Antwort: Das Wichtigste ist, Sichtbarkeit zu schaffen, zu schreiben, zu sprechen, Kulturschaffende zu Veranstaltungen einzuladen, Briefe an die Gefangenen zu schreiben, zu spenden. Es gibt also Solidaritätsmöglichkeiten, die mit einer performativen Geste beginnen, aber nicht unbedingt damit enden müssen.

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Zofia nierodzińska

Zofia nierodzińska ist Autorin, Kuratorin, Kulturarbeiterin, Illustratorin und Aktivistin. Zwischen 2017 und 2022 war sie stellvertretende Direktorin der Städtischen Galerie Arsenał in Poznan. Sie studierte an der Universität der Künste Poznan (PhD) und an der Universität der Künste in Berlin (MA). Sie ist Redakteurin der Plattform für Kunst und Aktivismus Magazyn RTV. Gemeinsam mit Jacek Zwierzynski gab sie die Publikationen „Creative Sick States: AIDS, CANCER, HIV“ (2021) und „Acting Together“ (2022) heraus. Als Stipendiatin der Senatsverwaltung für Kultur und Europa arbeitet sie derzeit an der Publikation „Politics of (In)Accessibilities“ und an dem Buch „Institution of Affinity“. Sie lebt in Berlin.
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Zofia nierodzińska is an author, curator, cultural worker, illustrator and activist. She was deputy director of the Municipal Gallery Arsenał in Poznan between the years 2017 and 2022. She studied at the University of the Arts Poznan (PhD) and the Universität der Künste in Berlin (MA). She is editor of the platform on art and activism Magazyn RTV. Together with Jacek Zwierzynski, she edited the publications “Creative Sick States: AIDS, CANCER, HIV” (2021) and “Acting Together” (2022). Currently, as a scholarship holder at the Senatsverwaltung für Kultur und Europa, she is working on the publication “Politics of (In)Accessibilities” and on the book “Institution of Affinity”. She lives in Berlin.

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