Die seltsame Debatte über Wohl und Wehe von Theater-Streams unterläuft die fundamentalen Umwälzungen der digitalen Revolution. Die virtuellen Panels im Rahmen des TT-Kontextprogramms „Unboxing Stages“ wiesen trotzdem in die richtige Richtung.
Samstagabend, 18 Uhr, am Eröffnungswochenende des Theatertreffens. Unter den üblichen Umständen wäre das der Moment der Stücke, für die die Karten besonders schnell weg waren. «Übliche Umstände» sind dieses Jahr jedoch nicht, und so debattierte man live im Video-Gespräch unter dem Titel „Stoppt das Streaming“, was sich in den letzten Wochen als Schneeballeffekt bei den verschiedensten Theatern abgezeichnet hatte: Die Bühne verlagert sich ins Internet. Aufzeichnungen von vergangenen Stücken, neue digitale Produktionen und abgewandelte Formen von dem, was es sonst im Spielplan zu sehen gegeben hätte. Toll, oder?
Digitale Medien sind längst die wichtigste Schnittstelle zwischen der Welt und uns geworden, seien es die Informationen online, die Wetter-App, Unterhaltungsangebote oder sämtliche Kommunikation, die nicht direkt stattfindet. Endlich zieht die Kulturwelt dem Leben nach, das wir sowieso schon leben.
Wo der Hund begraben liegt, zeigte Georg Kasch schon in der Einleitung zum Video-Gespräch: Was es diesmal an der virtuellen Special Edition des Theatertreffens zu sehen gäbe, sei nicht das, was live im Saal ausgewählt wurde. Klar, die Jury ist schließlich das ganze letzte Jahr durch die Gegend gereist, nicht mit viereckigen Augen vor Laptops gesessen. Klar, denn die Stücke sind auch nicht für 13″ bis 27″ Retinadisplay, sondern für das Erleben im Saal inszeniert worden.
Leider eben nicht das Alte
Doch so klar scheint das nicht zu sein, denn allzu oft fiel im Gespräch die Beteuerung an den Theatergott und die gegenseitige Zusicherung von uns Jünger:innen, dass diese Ausflüge ins Digitale kein Götzendienst seien. Keine Konkurrenz für das wahre Erlebnis vor Ort, kein gleichwertiger Ersatz, kein Abschwören von all dem. Das müsste uns medienkompetenten Schnittstellen-Menschen des 21. Jahrhunderts, die das hohe Maß an «Medienvermitteltheit» von Eindrücken inzwischen gewohnt sind, eher ulkig erscheinen. Dass es das nicht tut, deutet auf das schwierige, weil ungeklärte, Verhältnis von Theater und digitalem Raum hin – und wie eng die tradierte Auffassung der darstellenden Künste ist.
„Hört auf zu streamen“ lautete die eindeutige Forderung im TaZ-Artikel Anfang April, an den der Titel der Video-Debatte angelehnt war. Er vertritt die Haltung, dass das digitale Abbild dem ephemeren Eindruck im Museum oder Theater nicht gerecht wird. Genau das, was man also von Seiten einer kulturpessimistischen Kunstkritik erwarten kann: Die Feststellung, dass etwas Neues nicht das Alte ist. Meist liegt hinter dieser Art von Machtwort stattdessen die Angst, dass es eines Tages besser sein könnte.
Diese diffuse Sorge ist nachvollziehbar, denn so ist man es in der „echten“ Welt gewohnt. Kommt etwas Neues auf, muss etwas Altes dafür Platz machen. Doch in Bezug auf das digitale Theaterprojekt davon auszugehen, dass es das Herkömmliche abschaffen wird, ist absurd. Wie auch die Video-Runde festgestellt hat, ist es nicht dasselbe, bedient andere Bedürfnisse und stellt andere Anforderungen sowohl an Produzenten als auch an das Publikum. Ein Verdrängungskampf in der begrenzten Aufmerksamkeitsökonomie findet beim Theater nicht an der Grenze von digital oder analog statt. Außerdem misst sich der Theaterbesuch schon längst mit sämtlichen anderen Angeboten, wie man seinen Abend verbringen kann.
Doch der Witz des Digitalen ist, dass es sich eben nicht mehr um diese „echte“, analoge Welt handelt. Es ist kein Neuland, in das man abenteuerlich forschend vordringen kann. Es ist eine neue Logik, die uns zwingt, die Dinge neu zu denken. Tageszeitungen ahmen beispielsweise online ihre Ressorts nach, imitieren ihre Printform, doch ihr Kern – der Countdown bis Druckschluss, ihre Tagesaktualität, ihre einseitige Kommunikation zu einer Leserschaft – ist völlig auf den Kopf gestellt. Online können sich Bilder ändern, Artikel können ständig publiziert und aktualisiert werden, Leser:innen treten in Kontakt mit ihrer Zeitung. Oder haben die Info längst schon vor Stunden auf Social Media Plattformen gelesen.
Die falsche Gleichung mit dem Faktor „digital“
Das Streaming von Inszenierungen hat seine Daseinsberechtigung, sei es im Sonderfall wie für uns digitale Besucher:innen des diesjährigen Theatertreffens – oder für die Perlen der Archive und Leute, die andernfalls gar nicht ins Theater könnten, wie Christian Römer im Gespräch betont. Doch das Streaming ist nur ein erster schüchterner Versuch einer digitalen Theaterpraktik. Wenn es nicht damit getan ist, die Dinge, wie sie bisher funktioniert haben, ins Internet zu spiegeln, was bedeutet das für das Theater?
Statt Formate um den Faktor „digital“ zu erweitern, lohnt es sich, bestimmte Aspekte herauszugreifen und zu kombinieren: Ideen von Audiowalks, die Anna Lenk in der Runde aufwirft, greifen den Lokalbezug des Stadttheaters auf. Sie nutzen gleichzeitig wie digitale Mediatheken den Datenbankcharakter, der es Benutzer:innen erlaubt, zeitungebunden auf ein Angebot zuzugreifen. Oder Christopher Rüpings „Dekalog“-Experiment, eine explizite Inszenierung für den digitalen Raum, bei dem die Zuschauer:in mit Entscheidungen den Verlauf der live gespielten Geschichte beeinflussen kann. Die Aufhebung der linearen, einseitigen Kommunikation, zugunsten einer Partizipationsmöglichkeit, wie wir sie neu im Netz so häufig erleben.
Öffnet man so den Horizont von der Auffassung was Theater ist, zu der was es sein kann, ergeben sich im digitalen Raum die spannendsten Ansätze. Die Ubiquität von (kulturellen) Inhalten wird uns bereits in den letzten Wochen des Lockdowns bewusst. Plötzlich stehen uns theoretisch Theaterabende aller großen Häuser in Streamform zur Verfügung. Und das nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern weltweit. Was, wenn man diese neue Verbreitungslogik als Ausgangspunkt für eine Inszenierung nimmt und nicht das Publikum einer Stadt? Soziale Medien und Plattform-Logiken haben den Unterschied der Konsument:innen- und Produzent:innen-Rolle in Hinblick auf digitalen Stoffe verwischt und verändern womöglich die bisherige Aufteilung zwischen Publikum und Schauspieler:innen.
Das Verständnis, was Theater macht und kann, wird sich durch seinen Austausch mit der Digitalität grundlegend wandeln.
Christian Rakow spricht in seiner Einführung zur Debatte vom Abstandnehmen von der Top-Down Routine, zu der das Theater nun im digitalen Raum bereit sein muss. Warum nicht noch einen Schritt weiter gehen? Warum nicht gesamthaft an einem wirklich digitalen Theaterprojekt arbeiten? Mit der Open Source Logik, in der gesamthaft und dezentral eine Sache weiterentwickelt wird. Mit Expert:innen aus den unterschiedlichsten Bereichen, ob mit künstlerischem, theoretischem oder technischem Fokus. Nicht mehr dem Gedanken folgend, dass das eine Haus diese digitale Inszenierung gemacht hat, das andere Haus jenes Experiment verbockt. Die Software, wie sich das Theatersystem digital entfalten kann, wird gerade erarbeitet und funktioniert genauso komplex wie die Welt, in die sie sich einzufügen versucht. Und ganz im Sinne einer sich weiterentwickelnden Software, ist auch dieses Projekt nicht irgendwann beendet, sondern erfährt mit jedem neuen Experiment Updates.
Auch diese Krise ist eine endliche
Das Verständnis, was Theater macht und kann, wird sich durch seinen Austausch mit der Digitalität grundlegend wandeln. „Stoppt das Streaming“ als Verweigerung einer gegenseitigen Durchdringung ist keine Alternative, wenn sich der Theaterbesuch nicht irgendwann wie ein Ausflug in einen historischen Themenabend anfühlen soll. Das bedeutet nicht, dass wir darauf verzichten müssen, in einem großen dunklen Raum zu sitzen und mit einer Gruppe von Menschen den Moment zu teilen, in dem uns, und nur uns, gerade eine Geschichte erzählt wird, die unsere Vorstellung der Welt und uns in ihr erweitert und uns etwas verstehen lässt. Es bedeutet bestenfalls, dass diese Geschichten aktueller und relevanter werden, da sich ihr Rahmen auf das Leben eingelassen hat, das wir längst leben.
Was wir in den ersten Wochen des weltweiten Hausarrests gesehen haben, waren keine sorgfältig erprobten Darbietungen als Ergebnis eines künstlerischen Prozesses, in dem sich die Expertise von verschiedenen Leuten kumuliert, was wir sonst vom Theater gewohnt sind. Das waren Wagnisse, Versuche neue Wege zu gehen und genau das braucht es in den nächsten Monaten, um die Gesamtinszenierung des digitalen Theaterprojekts weiter zu treiben. Joana Tischkaus Wunsch am Ende der Video-Debatte fasst zusammen, was dafür nötig ist: Experimentieren und Dilettantismus zulassen. Und Fragen für die Zukunft aufnehmen, schließt Roman Senkl an – eine Erinnerung, dass die unüblichen Umstände der Krise nicht ewig dauern werden.