Nullwachstum

Lena Schwarz als Ljubow Andrejewna Ranjewskaja und Matthias Bundschuh als Leonid Andrejewitsch Gajew in "Der Kirschgarten", Schauspielhaus Köln. Foto: Sebastian Hoppe

Im Anschluss an die Premiere von Karin Henkels Kölner „Kirschgarten“-Inszenierung trafen sich die Blogger Matt, Anna und Fadrina im Blogger-Büro zum kritischen Gespräch. Der „Kirschgarten“ ist heute um 16 Uhr und um 20.30 Uhr im Haus der Berliner Festspiele zu sehen, es gibt noch Karten.

Fadrina: Ich finde die Inszenierung ästhetisch interessanter als inhaltlich. Was für mich den Abend ausmacht, ist das Spiel mit den unterschiedlichen Tempi, die sich überlagern: das ständige im Kreis Gehen, die übersteigerte künstliche Hektik, die Wiederholungen – bis plötzlich in seltenen Momenten der klassische Tschechow-Stillstand durchbricht, aber gleich wieder von der Bewegung übertüncht wird. Und dann auch das Spiel mit Genres und Stimmungen: Die Inszenierung ist Schaubuden-Schnulze, Fratzen-Komödie und manchmal schlafwandlerische Gespenstersonate. Spannend war, dass die Stimmungen immer so schnell gebrochen werden, dass man als Zuschauer gar nicht die Möglichkeit hat, sich in einer Atmosphäre niederzulassen. Das „Zuhause“ wird damit auch auf dieser Ebene verunmöglicht.

Anna: Also ich finde es vor allem interessant, dass alle Personen in einer unterschiedlichen Zeit leben. Zum Beispiel die Figur der Ljubow Andrejewna Ranjewskaja, die in zwei Ereignissen „stehen geblieben“ ist – dem Tod ihres Sohnes und der zerbrochenen Liebe mit ihrem fremdgegangenen Mann in Paris. Lopachin hingegen lebt im Jetzt, in der Arbeit und in der Ideologie des Geldes. Die anderen Personen reihen sich in die Vergangenheit und das Jetzt ein oder stehen dazwischen. Dadurch reden fast alle Beteiligten aneinander vorbei.

Matt: Die Figuren – die Diener, der Adel und „New Money“ – stürmen die Zuschauer an; sie singen, tanzen und wirbeln auf der Bühne herum wie Spieluhr-Puppen. Das ist eine Zirkustruppe, und Karin Henkel nimmt im wahrsten Sinne des Wortes Tschechows Hinweis ernst, dass das Stück eigentlich Vaudeville ist. Die Schauspieler entwickeln eine großartige Energie, und Charly Hübner als Lopachin, breit und groß in seiner „bad-taste“-Kleidung, illustriert Tschechows Charakter in glänzenden Farben.

Fadrina: Ja, das ist es doch genau: Die Inszenierung ist eine Illustration des Textes, mehr nicht! Wer den „Kirschgarten“ inszeniert, muss auch wissen wieso, denn das Stück ist so oft gemacht worden, und ich finde, es reicht nicht mehr, eine allgemeinmenschliche Parabel mit den klassischen Tschechow-Themen auf die Bühne zu stellen, auch wenn es schön ist.

Matt: Eine unkonventionelle Lesart kommt, wenn überhaupt, nur vom Bühnenbild von Kathrin Frosch. Charly Hübner winkt am Schluss eine riesige Wand mit großen Blumen, die aus blinkenden Glühbirnen gebaut sind, zu sich herunter. Aber ich fand diese Wand fadenscheinig. Das war ein superkitschiger Moment, der gut zum Zirkusstil passte, aber im Endeffekt einfach dazugeklebt wirkte.

Fadrina: Unkonventionell fand ich das Bühnenbild nicht, und überhaupt benutzt die Inszenierung Bilder, die schon oft verwendet worden und schon zu aufgeladen sind, um noch zu taugen, wie zum Beispiel die künstliche Jahrmarkt-Scheinwelt, die für eine ins Leere laufende „Sehnsucht“ steht, und die verbrannte Erde als Zeichen dafür, dass der Boden zum unfruchtbaren Acker geworden ist…

Anna: Verbrannte Erde?

Matt: Ja, die Erde, in der nichts mehr wächst…

Anna: Ich habe das anders gelesen, ich glaube, die Erde hat in Russland eine andere Bedeutung. Die brachliegende Erde auf der Bühne steht für „Mutter Erde“, sie gleicht dem Heimatverlust und dem Verlust der Jetzt-Zeit. Durch die herben emotionalen Niederlagen ist Ljubow Andrejewna Ranjewskaja wie gelähmt. Eigentlich verkörpert die Gefolgschaft die absolute Unmündigkeit: Sie vertrauen auf jemanden, der nicht mal sich selbst tragen kann, sie ist in diesem Sinne die unfruchtbare Erde. Was ich hingegen nicht so richtig begriffen habe, ist die Figur der Dunjascha. Sie ist wie ein Gespenst und hängt irgendwie in der Luft – zwischen allen Ereignissen. Vor allem wird das Frauenbild der machtlosen, unglücklichen Frau, welches auch bei Warja entworfen wird, nicht richtig herausgearbeitet. Das geht ein bisschen unter.

Fadrina: Ich fand es schade, dass die Regie gewisse Sachen nur antönt, die die Inszenierung wirklich existentiell machen würden, wie der Irrsinn, in den die Mutter immer wieder kippt, oder die Aggression, die in Anja steckt, wenn sie sich ans Schlagzeug setzt, nachdem Lopachin verkündet hat, dass er den Kirschgarten gekauft hat. Doch nach ein paar Sekunden wird diese Wucht schon abgebrochen. Die Inszenierung geht nie ins emotional Extreme.

Anna: Das ist doch gerade das Schöne! Insgesamt fand ich die Inszenierung sehr feinfühlig – sie schreit mich nicht so an und drängt sich nicht so auf wie „Das Werk / Im Bus / Ein Sturz“. Sie gibt mir die Wahl, die Distanz zu halten oder auch aufzugeben, wenn mich die Emotion mitnimmt.

Matt: Für mich ist es ein durchaus ordentlicher Tschechow. Aber – bemerkenswert? Obwohl Henkel das Stück mit viel Handfertigkeit inszeniert, lässt sie nichts zum Vorschein kommen, das ich nicht schon vorher in einer „Kirschgarten“-Inszenierung gesehen oder schon über den Kirschgarten gewusst habe.

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Fadrina Arpagaus

www.anna-deibele.com

Fadrina Arpagaus, geboren 1980 in Zürich, studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Berlin. Während ihres Studiums hospitierte und assistierte sie am Schauspielhaus Zürich u.a. bei Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief und Schorsch Kamerun und in der freien Szene Berlins. Danach begann sie eine Dissertation mit dem Titel „Radikale Gefährdung. Subjektkonstitutionen in Theatertexten des 21. Jahrhunderts“ und arbeitete als Journalistin, unter anderem für "der Freitag" und Kulturkritik.ch. Zurzeit ist sie als Dramaturgieassistentin und ab nächster Spielzeit als Dramaturgin am Theater Basel engagiert, wo sie für das Schauspiel den Blog entworfen hat.

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Matt Cornish, geboren 1983 in Los Angeles, hat einen Master of Fine Arts in Dramaturgie und Theaterkritik der Yale School of Drama. Derzeit macht er in Yale seinen Doctor of Fine Arts, dieses Jahr in Berlin im Rahmen eines Fulbright-Stipendiums. In seiner Dissertation untersucht er, wie deutsche Regisseure und Dramatiker seit 1989 die Geschichte der deutschen Teilung im Theater benutzt oder dargestellt haben. Er schreibt unter anderem für die Zeitschriften Theater, PAJ: A Journal of Performance and Art und TheatreForum.

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Anna Deibele, 1982 im Nordkaukasus/ Russland geboren, mit neun Jahren nach Deutschland eingewandert, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin und Madrid. Seit 2007 arbeitet sie als freie Radio-Autorin aus dem In- und Ausland, unter anderem für die Deutsche Welle, Deutschlandradio Kultur, WDR Funkhaus Europa und mdr Figaro. Außerdem unterrichtet sie argentinischen Tango und Klavier. Sie lebt in Berlin.

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