Wenn Kathedralen ins All starten

Jetzt alles digital, jetzt alles anders? Unser Autor wirft einen kritischen Blick auf die unbefriedigende Debatte und den dogmatischen Fortschrittsglauben einer verunsicherten Theaterszene.

Jetzt alles digital, jetzt alles anders? Unser Autor wirft einen kritischen Blick auf die unbefriedigende Debatte und den dogmatischen Fortschrittsglauben einer verunsicherten Theaterszene.

Die letzten Tage diskutierten Theaterschaffende und Kulturjournalisten über das Theater und Digitalität. Irgendwie scheint es nicht gut um das Theater zu stehen. Ja, das Theater scheint gar in der Krise. Nicht nur in ökonomisch-praktischer, sondern auch in künstlerischer Hinsicht: Die US-Kulturindustrie hat in digitalen Formaten sowieso die Nase vorn, das Fernsehen schafft es besser, sich den Gegebenheiten anzupassen und das Theater bleibt zurück. Dieser Dreiklang zeichnete die Grundstimmung so gut wie aller Diskussionsformate des Rahmenprogramms vor.  Die Situation ist also heikel, prekär. Folgerichtig forderte Christian Römer von der Heinrich-Böll-Stiftung das Feuilleton auf, sich in konstruktiver Manier dem Thema zu widmen und sich mit Urteilen über digitale Theaterversuche zurückzuhalten. In schweren Zeiten gilt es wohl, zusammenzurücken. Dieser Aufforderung wird im Weiteren mit Freude Folge geleistet und die Kritik widmet sich ganz der theoretischen Seite.

Das Theater der Zukunft

Steigen wir also damit ein, wie die „Netz-Community“ in den Theaterkreisen auf den Gegenstand blickt. Theater seien „Kathedralen der Andacht“ in einer „teilhabeintensiven Zeit“, denen man zugutehalten müsse, dass sie die armen, sozialmedial gebeutelten Zuschauer für einige Momente von der Last der Teilhabe erleichtern. Digitale Teilhabe, die allgegenwärtige und scheinheilige Bitte um Meinung und Interaktion, hat man früher wenigstens noch als Verlängerung der entfremdeten Arbeit benannt. Täte man‘s heute, fiele einem vielleicht auf, dass einer gesagten Teilhabe eine eigentliche Ohnmacht gegenübersteht, wenn es um Fragen der tatsächlichen Umstände des Lebens geht. Teilhabe ist der ideologische Schlenker dafür, in Beschlag genommen zu sein. Aber weil Teilhabe so toll ist – unabhängig davon, woran man teilhat – ist sie geeignet, zum Leitmotiv des „Theaters von morgen“ zu werden: Einem „neuen Raum“, in dem der „Rezipient zum Ko-Produzenten von Bedeutung“ wird. Dafür braucht es ein für den digitalen Raketenstart vorbereitetes, ja geschultes Theater – denn es geht um nicht weniger als das THEATER DER ZUKUNFT.

Digitale Teilhabe, die allgegenwärtige und scheinheilige Bitte um Meinung und Interaktion, hat man früher wenigstens noch als Verlängerung der entfremdeten Arbeit benannt.

Diesem Anspruch steht leider das aktuelle Theater mit seinen zaghaften digitalen Flugversuchen empörend diametral gegenüber. Das Publikum sei „Klick-Vieh“ und „es geht nicht um mich und meinen Input, sondern um irgendeinen Input“, bemängelte Theaterkritiker Christian Rakow. Interessanterweise ist dieser Polemik gegen die Spielereien und Versuche der Theater einiges gemeinsam mit dem Eindruck, den die Debatten der letzten Woche vermittelten: Weniger ging es um die Gegenstände, die das Theater verhandelt, also etwa um eine Ästhetik, die nach dem Internet verlangt, sondern darum, wie das Theater irgendwie internetfähig gemacht werden kann. Unter dieser Prämisse ist schnell eine ganze Bandbreite an Schwierigkeiten zur Hand: Denn das „atmosphärische Theatererlebnis“, wie Regisseur Christopher Rüping es nannte, in den virtuellen Raum zu verlagern, gestaltet sich tatsächlich auch für Digital Natives schwierig.

Die Spannung zwischen Stil und Stilbruch

Die Frage nach dem Warum stellt sich nicht. Vielmehr ist der Startschuss für das nächste „Panel“ schon gefallen und man macht sich, wie der Performance-Künstler Klaas Werner es beim Gespräch „Von Netz-Dramatik und digitalem Storytelling“ betitelt, auf die Suchen nach den „Stärken des Theaters“, den „USPs“ (unique selling points), die sich besonders gut für das Internet eignen. Leider sind den Diskutanten ad hoc keine eingefallen, was das Gespräch zwar recht leer machte, aber hier Platz schafft, sich mit der Herangehensweise an das Thema zu beschäftigen: Eine Kunstform hat also „Stärken“ und „Schwächen“, die geschickt ausgespielt, beziehungsweise kaschiert sein wollen, wenn es darum geht, sie als einzigartig zu verkaufen.

Look at me: „Süßer Vogel Jugend“, inszeniert von Claudia Bauer © Rolf Arnold

Nun waren Kunstwerke natürlich schon immer Gebrauchswerte und sind schon lange Waren. Aber die Avantgarde bewegte sich immer im „trotzdem“, in der Spannung zwischen Stil und Stilbruch, zwischen Auftrag und seiner Unterwanderung. Die angestoßene Suche nach den „Stärken“ setzt unter dem Vorwand der „Demokratisierung“ des Theaters dieses der Nachfrage aus, die zwar nichts mit einem irgendwie gearteten objektiven „Bedürfnis“ der „definierten Zielgruppen“ und des „developten audience“ zu tun hat, die Produktion insofern jedoch schon objektiviert, als dass sie sich den gesetzten Normen hingibt, die eben die „Architekten“ der Plattformen und Verbreitungswege vorgegeben haben. Das steht in keinem Gegensatz zur analogen Theaterwelt, konterkariert aber das Märchen von der großen digitalen Freiheit. Der virtuelle Eskapismus scheitert, noch bevor er antreten kann, das Theater zu verändern. Denn egal wo er hinkommt, haben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse schon längst breitgemacht. Wie die „Entdecker“ der Neuzeit schon lernen mussten: Neuland gibt es nur in der Utopie.

Erbsündendramaturgie gegen die Kathedralen der Andacht

Wie die postmoderne Architektur, erheben die theatralen Digitalisten das Spiel zum bestimmenden Element gesellschaftlicher Verhältnisse. Im Theater des Internets sei es wichtig, dem Zuschauer das Gefühl zu geben, was er sehe sei „relevant und aktiv beeinflussbar“. Es geht also in erster Linie darum, wie die Dinge erscheinen. So zitiert Christian Rakow den Spieleentwickler Jan Müller-Michaelis mit seinem Lob der interaktiven Dramaturgie: „Das Gute ist, es ist deine Schuld.“ Zunächst mag Schuld als eine eigenartige Kategorie erscheinen. So eine Erbsündendramaturgie passt aber vielleicht wieder ins Bild der „Kathedralen der Andacht“. Nicht nur in der Politik wird einer im Namen des Volkes für allerlei in Beschlag genommen, nein der Zuschauer darf sich jetzt auch freuen, das Gelingen eines Abends, den er nicht konzipiert hat, zu verantworten.

Es sei zudem die vielleicht etwas pubertäre Bemerkung erlaubt, dass die Freiheit in einem Abenteuerspiel natürlich auch nur ein schlechter Witz ist: Die Aufgabe, der „Quest“, ist schließlich vorgegeben, es steht einem nicht frei, die Pariser Kommune auszurufen.

Dieser müde Gesellschaftsvertrag ist zumindest bis jetzt dem Publikum erspart geblieben. Denn nüchtern betrachtet ist, was der Spieleentwickler an dieser Dramaturgie so schätzt, ein Affekt, den zu erzielen er seine dramaturgische Entscheidung getroffen hat. Hinter der Entscheidungsfreiheit für den Spieler/Zuschauer steht also unverändert eine Vorstellung von Welt und ein Narrativ. Die Intention künstlerischer Arbeit wird nicht ausgeschaltet, sondern erscheint nicht mehr als solche. Es sei zudem die vielleicht etwas pubertäre Bemerkung erlaubt, dass die Freiheit in einem Abenteuerspiel natürlich auch nur ein schlechter Witz ist: Die Aufgabe, der „Quest“, ist schließlich vorgegeben, es steht einem nicht frei, die Pariser Kommune auszurufen; man(n) hat die Prinzessin aus dem Turm zu retten. Bei anderen Genres, wie Aufbauspielen oder Gesellschaftssimulatoren bestimmt die Spielmechanik den Charakter des Geschehens maßgeblich. 

Theater zur moralischen Ertüchtigung?

Mit besagten Abenteuerspielen soll das Theater nun in Konkurrenz treten. Namentlich mit Witcher III und mit The Walking Dead, wobei es aufpassen müsse, dass es nicht alt dagegen aussehe. Innovation ist gefragt, damit die Kids am Ball bleiben. Schon der olle Benjamin schrieb über einen solchen dogmatischen Fortschrittsbegriff, er behaupte „einen Fortschritt der Menschheit selbst, nicht nur ihrer Fertigkeiten und Kenntnisse“. Guckt man also genauer hin, woran sich das Theater zumindest zu messen, wenn nicht zu orientieren hat, so besteht die große Neuheit im Weg durch apokalyptische Szenarien, die gepflastert sind mit moralischen Entscheidungen, die im Zweifel auch noch mit einem sozialen Punktesystem bei „gut“ oder „böse“ angerechnet werden. Subversion beschränkt sich darauf, auch mal den Bösewicht zu verkörpern. Letztlich ist so eine Vorstellung von Dramaturgie nicht weit weg von Lessings Hamburgischer.

Utopie und Mythos

Neben dem moralisch-pädagogischen Impetus deutet das Feedback-Dogma auf das Kleine hin, weg von der Gesellschaft auf das Individuum, das soziologisch-psychologische Interesse am Einzelnen. Der digitale Eskapismus, die Hoffnung auf einen Neuanfang im Netz entspringt der gleichen Verklärung des Digitalen wie die bildgewaltigen Arbeiten von Susanne Kennedy oder Alexander Giesche, in denen Transhumanismus, die Spiritualität in der Simulation, das reproduzierbare Erweckungserlebnis zu Auswegen aus einer als mythenfeindlich empfundenen Welt werden. Die Mystifizierung des virtuellen Raumes, das Pathos gegenüber dem scheinbar Unbekannten, sie sind die kongenialen Widergänger der hellstrahlenden Netz-Utopien.

Kunst als Wettrennen um Innovation

Die Sorge, irgendwie zurück zu fallen, den Anschluss zu verlieren, wie sie sich in Christian Römers Klage äußert, seit der Debatte 2014 habe sich, „wenn man ehrlich ist, immer noch nichts verändert“, deutet auch einen äußerlichen Druck auf die Theater an. Je mehr die „Digitalisierung“ zur Staatsraison wird, avanciert Kunst zur Standortfrage und muss sich ein analoges Theater der Frage stellen, ob es einer digital vernetzten Industrienation als Repräsentant der offiziellen Hochkultur genügen kann. Die Konkurrenz der Standorte findet ihre Entsprechung in der Konkurrenz der Theater und letztlich der Künstler. Es ist die Binse vom kapitalistischen Fortschrittsdruck, die Notwendigkeit sich anzupassen und zu innovieren, weshalb die erzwungene Pause eher wie eine Beschleunigung wirkt. Denn, ob Theater oder Künstler, alle müssen gucken, wo sie am Ende bleiben.

Digitalität als Technologie ist weder ein Weg in die ideale Zukunft des Theaters noch sein Totengräber. Sie ist ein Werkzeug unter vielen und ein Teil der Realität, mit der sich das Theater in seinen Stoffen konfrontiert sieht. So lässt sich wohl am besten mit der Feststellung der Tänzerin Beatrice Cordua schließen, die am Dienstag mit Blick auf die neuen technischen Möglichkeiten sagte: „Is it good? Is it bad? It’s there, so we use it. It’s a tool, that’s it.”

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Victor Osterloh

Jahrgang 1995, aus Berlin, wo er Literatur und Politik studiert. Arbeitete nebenbei beim Hörfunk und derzeit am Theater.

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