Theatertreffen in einer Welt im Überlebensmodus
Zum ersten Mal kollektiv, zum ersten Mal transnational und feministisch!
Das neue TT-Leitungsteam schreibt Geschichte, obwohl das Festival noch gar nicht begonnen hat. Das Leitungsteam besteht aus der Kulturmanagerin und Produzentin Joanna Nuckowska, der Dramaturgin und Kuratorin Carolin Hochleichter, der Theaterregisseurin und Aktivistin Olena Apchel und, bis Ende März, der Produzentin Marta Hewelt. Die Erwartungen und die damit verbundenen Befürchtungen sind groß, mahnen Theaterkritiker_innen, schließlich wissen wir alle, wie es mit der kollektiven Verantwortungsübernahme auf der Documenta 2022 war.
Aber die Welt, auch die institutionalisierte Welt der Kultur, verändert sich. , Kollektivität und transnationale, oder besser: translokale Netzwerke lassen sich nicht mehr in den traditionellen (sprich: hierarchischen, patriarchalen, westlich geprägten, klassenbasierten) Strukturen aufrechterhalten. Verantwortung, die Frage nach Privilegien, Zugänglichkeit, osteuropäische Kultur und Nachhaltigkeit stehen im Mittelpunkt dieser Ausgabe des Festivals, das seit 60 Jahren stattfindet und in seinen Anfängen als „Schaufenster des Westens“ bekannt war.
Die Themen und die Frage „Wer hat das Privileg, nicht zu wissen?“ werden im Rahmenprogramm erarbeitet, d.h. in 10 Treffen, die das Festival „umrahmen, umgarnen und umarmen“. Neben 10 herausragenden Inszenierungen, die von einer unabhängigen Jury aus dem deutschsprachigen Raum ausgewählt werden, wird es Diskussionen, Performances und Begegnungen geben. Zu erwarten ist ein starker Fokus auf die Situation in der Ukraine („Bunker Cabaret“; „Cyber Elf“), auf das ungleiche Verhältnis zwischen Ost- und Westeuropa („Artistic Work in Exile“; „War on Distance“; „Living Canvas“), auf die Oppositionskultur in Belarus („1 Minute Scream“; „People Without Country. Country without People. Belarusian Cultural Opposition“) und translokale feministische Solidarität („Dinner Party“; „Textile Workshop“). All diese Themen knüpfen an die aktuelle Debatte über den postsozialistischen Raum und die postsozialistische Kultur östlich der Elbe (PostOst) an. Es bleibt zu hoffen, dass die Diskussionen und Begegnungen auch vor kritischen Fragen nicht zurückschrecken und schwierige Themen wie Nationalismus, Isolationismus oder die Grenzen transnationaler Solidarität auch außerhalb Europas ansprechen.
Die 10 ausgewählten Theaterinszenierungen, die im Rahmen des TT gezeigt werden, beschäftigen sich mit Themen wie dem Nachleben der AIDS-Krise in den 1980er Jahren in den USA („Das Vermächtnis“), dem feministischen Umgang mit Katastrophen der Gegenwart („Ophelia’s Got Talent“) oder der zeitgenössischen Erinnerungskultur in Deutschland („Der Bus nach Dachau“).
Meine Aufgabe als Co-Redakteurin des diesjährigen TT-Blogs (zusammen mit Antigone Akgün und Anna Reimnitz) ist es, einen Diskussions- und Reflexionsraum zu schaffen, den wir mit Kommentaren und Textbeiträgen von fünf Blogger_innen füllen, die im Rahmen eines Open Calls zur Teilnahme eingeladen wurden. Auf diese Weise können wir die genannten Inszenierungen und Ereignisse diskutieren und den institutionellen Rahmen, in dem wir arbeiten, kritisch hinterfragen. Unter anderem beschäftigen wir uns mit der Frage der Kulturkritik im Kontext künstlicher Intelligenz, reflektieren das Festivalformat selbst und seine Nachhaltigkeit sowie die Politiken der In- und Exklusion, die der institutionalisierte Kunstbetrieb hervorbringt.
Als ausgebildete Künstlerin, Kuratorin und Kunstkritikerin komme ich aus dem Bereich der bildenden und performativen Künste, wo Fragen nach dem Wer, mit Wem, für Wen, Wofür und Wozu zur konzeptionellen Ausbildung gehören. Ich freue mich, dass ich diese Fragen nun im Rahmen des wichtigsten deutschsprachigen Theaterfestivals stellen darf. Ich bin sehr gespannt, wohin uns diese strukturelle Reflexion führen wird. Lesen und kommentieren Sie unsere Texte.
Wir laden Sie ein, mit uns zu diskutieren: Was war das Theatertreffen, was ist es und wie könnte es in der Zukunft aussehen?
Zofia nierodzińska
Mai 2023
-English Version –
Theatertreffen Within a World in Survival Mode
For the first time collective, for the first time transnational, and feminist!
The new TT management team is making history before the festival has even started. The management team consists of cultural manager and producer Joanna Nuckowska, dramaturge and curator Carolin Hochleichter, theatre director and activist Olena Apchel, and, until the end of March, producer Marta Hewelt. The expectations and the associated fears are high, the theatre critics warn; after all, we all know what happened with the collective assumption of collective responsibility at this year’s Documenta.
But the world, including the institutionalised world of culture, is changing; collectivity and transnational or translocal networks can no longer be sustained within traditional (read: hierarchical, patriarchal, westernised, class-based) structures. Responsibility, the question of privilege, accessibility, Eastern European cultures, and sustainability are at the heart of this edition of the festival, which has been running for 60 years and was known in its early days as the „Showcase of the West“.
The themes and the question „Who has the privilege of not knowing?“ will be explored in the framework programme, i.e. in ten encounters that „frame, beguile and embrace“ the festival. In addition to ten outstanding theatre productions selected by an independent jury from German-speaking countries, there will be discussions, performances, and encounters. There will be a strong focus on the situation in Ukraine(„Bunker Cabaret„; „Cyber Elf„), on the unequal relationship between Eastern and Western Europe(„Artistic Work in Exile„; „War on Distance„; „Living Canvas„), on the opposition culture in Belarus („1 Minute Scream„; „People Without Country. Country without People. Belarusian Cultural Opposition„) and translocal feminist solidarity („Dinner Party„; „Textile Workshop„). All of these themes relate to the current debate on post-socialist space and culture east of Elba (‚PostOst‘). It is hoped that the discussions and encounters will not shy away from critical questions and will address difficult issues such as nationalism, isolationism or the limits of transnational solidarity, also beyond European borders.
The ten productions selected for the Theatertreffen deal with topics such as the aftermath of the AIDS crisis in the USA in the 1980s („Das Vermächtnis„), the feminist approach to contemporary catastrophes („Ophelia’s Got Talent„) or the contemporary culture of remembrance in Germany („Der Bus nach Dachau„).
My task as co-editor of this year’s TT Blog (together with Antigone Akgün and Anna Reimnitz) is to create a space for discussion and reflection, which will be filled with comments and texts from five bloggers invited through an open call. This will allow us to discuss the productions and events mentioned above, and to critically examine the institutional framework in which we work. Among other things, we address the question of cultural critique in the context of artificial intelligence, reflect on the festival format itself together withand its sustainability, as well as the politics of invitation and exclusion that the institutionalised art establishment produces.
As a trained artist, curator and art critic, I come from the field of visual and performing arts, where questions of ‘who?’, ‘with whom?’, ‘for whom?’, and ‘for what?’ are part of the conceptual training. I am happy to be able to ask these questions in the context of the most important German-language theatre festival. I am very curious to see where this structural reflection will lead us.
Read and comment on our texts. We invite you to join the discussion: What was the Theatertreffen, what is it now – and how could it be in the future?
May 2023
Zofia nierodzińska
Die Redaktion 2023
İlker Çalışkan
İlker Çalışkan, geboren 1995, hat einen Bachelor in Psychologie und studiert derzeit Theaterkritik und Dramaturgie im Master. Sein Schwerpunkt liegt auf Komödien sowie Kinder- und Jugendtheater. Neben dem Studium schreibt er Theater- und Aufführungskritiken, sowohl in seinem eigenen Blog (https://baharindagencligimizin.blogspot.com/) als auch in verschiedenen Online-Magazinen. Außerdem ist er als Dramaturg im Rahmen eines Projekts des Zorlu Performing Centers tätig und nimmt an dem Straßenaktionsprojekt Artistic Freedom and Children’s and Youth’s perspective in the Arts in Turkey [ACT] teil.
İlker Çalışkan, born in 1995, has a bachelor’s degree in Psychology and is currently studying Theatre Criticism and Dramaturgy in a Master’s programme. He specialises in comedy and children’s and youth theatre. Alongside his studies, he writes theatre and performance reviews, both on his own blog (https://baharindagencligimizin.blogspot.com/) and in various online magazines. He also works as a dramaturge in a project of the Zorlu Performing Center and participates in the street action project Artistic Freedom and Children’s and Youth’s Perspective in the Arts in Turkey [ACT].
Anastasia Gornizki
Anastasia M. E. Gornizki ist 21 Jahre alt und wuchs als Kind russisch-ukrainisch-jüdischer Kontingentgeflüchteter in der Spreewaldmetropole Cottbus auf. Sie studiert Englische Philologie, sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie versucht so viel wie möglich von Projekten, vor allem kreativer Art, mitzunehmen, um ihren Horizont ständig zu erweitern. Sie schreibt gerne journalistische Texte oder Gedichte und bewegt sich vor allem in der Welt des Films und Theaters. Produktionen, die gesellschaftspolitische oder soziale Themen in unterschiedlichen künstlerischen Formen verhandeln, liegen ihr besonders am Herzen. Außerdem fotografiert sie gerne – egal ob mit dem Handy, der Digitalkamera oder analog.
Anastasia M. E. Gornizki is 21 years old and grew up as a child of Russian-Ukrainian-Jewish refugees in the Spreewald metropolis of Cottbus. She is studying English Philology and Journalism and Communication Studies at the Free University of Berlin. She tries to take as much as possible from projects, especially of a creative nature, in order to constantly broaden her horizons. She enjoys writing journalistic texts or poetry and is particularly active in the world of film and theatre. She is especially interested in productions that deal with socio-political or social issues in various artistic forms. She also enjoys photography, whether with a mobile phone, digital camera or analogue.
Aurelia Kraus
Aurelia Kraus geboren 1992, teilt mit Brecht nicht nur die Heimatstadt, sondern auch die Freude daran diese verlassen zu haben – und wie unzählige andere die Begeisterung für Theater und Kritik, Kritik durch sowie am Theater. Sie studiert(e) Theaterwissenschaft, Philosophie, Literaturwissenschaft und Psychologie und arbeitet als studentische Hilfskraft als auch Tutorin am Theaterwissenschaftsinstitut der Freien Universität Berlin. Ihre Schwerpunkte liegen auf der intersektionalen, queerfeministischen Analyse von (un)sichtbaren Machtdynamiken inner- und außerhalb von Institutionen. Nebenbei schreibt sie und ist als Lesepatin tätig.
Aurelia Kraus, born in 1992, shares not only her hometown with Brecht, but also the joy of having left it – and, like countless others, the enthusiasm for theatre and criticism, criticism of and by the theatre. She studies Theatre Studies, Philosophy, Literature and Psychology and works as a student assistant and tutor at the Theatre Studies Institute of the Free University of Berlin. Her focus is on intersectional, queer-feminist analysis of (in)visible power dynamics within and outside of institutions. She also writes and works as a reading mentor.
Klaudia Lagozinski
Klaudia Lagozinski, Jahrgang 1994, spricht an den meisten Tagen drei Sprachen, liebt das Reisen und mag das Schreiben. Sie arbeitet als Nachrichtenchefin für taz.de und als freie Kulturjournalistin. Vor wenigen Jahren rutschte sie in ein Dasein als Digital Nomad ab und fühlt sich seitdem in dieser Rolle ziemlich wohl. Zuhause ist für sie kein Ort, sondern ein Gefühl Sie studierte Sozial- und Kulturanthropologie, Theater und Kulturjournalismus in Berlin und ging während dieser Zeit häufig ins Theater. Außerdem studierte sie in Uppsala, Schweden, und verbrachte dort viel Zeit in Wäldern und am Lagerfeuer.
Klaudia Lagozinski, born in 1994, speaks three languages most days, loves to travel and enjoys writing. She works at the news desk for taz.de and as a freelance culture journalist. A few years ago, she slipped into an existence as a digital nomad and has felt quite comfortable in this role ever since. For her, home is not a place, but a feeling. She studied social and Cultural Anthropology, Theatre and Cultural Journalism in Berlin and was a frequent theatregoer. She also studied in Uppsala, Sweden, and spent a lot of time there in forests and around campfires.
Günther Mailand
Günther Mailand hat von 2008-2015 als autodidaktischer Musiker, Produzent und Instrumentalist in Projekten unterschiedlicher Genres mitgewirkt und als Komponist für Kunst- und Dokumentationsfilme produziert. Gemeinsam mit Hans Innenhof arbeitet er seit 2015 unter dem Namen Mailand / Innenhof als künstlerisches Duo interdisziplinär zwischen bildender und darstellender Kunst. Kern ihrer Arbeit sind Aktionen und Eingriffe im öffentlichen Raum. Besonderes Interesse gilt dabei theoretischen Fragestellungen zu politischer Ökonomie, materialistischer Gesellschaftstheorie und Ästhetik im Kapitalismus.
From 2008-2015 Günther Mailand has worked as an autodidact musician, producer and instrumentalists in projects of different genres. During this time he also produced art and documentary films. Since 2015 he has been working together with Hans Innenhof under the name Mailand / Innenhof. As an artistic duo they work interdisciplinary between visual and performing arts. They are particularly interested in theoretical questions of political economy, materialist social theory and aesthetics in capitalism.
Zofia nierodzińska (Konzept und Redaktion)
Zofia nierodzińska ist Autorin, Kuratorin, Kulturarbeiterin, Illustratorin und Aktivistin. Zwischen 2017 und 2022 war sie stellvertretende Direktorin der Städtischen Galerie Arsenał in Poznan. Sie studierte an der Universität der Künste Poznan (PhD) und an der Universität der Künste in Berlin (MA). Sie ist Redakteurin der Plattform für Kunst und Aktivismus Magazyn RTV. Gemeinsam mit Jacek Zwierzynski gab sie die Publikationen „Creative Sick States: AIDS, CANCER, HIV“ (2021) und „Acting Together“ (2022) heraus. Als Stipendiatin der Senatsverwaltung für Kultur und Europa arbeitet sie derzeit an der Publikation „Politics of (In)Accessibilities“ und an dem Buch „Institution of Affinity“. Sie lebt in Berlin.
Zofia nierodzińska is an author, curator, cultural worker, illustrator and activist. She was deputy director of the Municipal Gallery Arsenał in Poznan between the years 2017 and 2022. She studied at the University of the Arts Poznan (PhD) and the Universität der Künste in Berlin (MA). She is editor of the platform on art and activism Magazyn RTV. Together with Jacek Zwierzynski, she edited the publications “Creative Sick States: AIDS, CANCER, HIV” (2021) and “Acting Together” (2022). Currently, as a scholarship holder at the Senatsverwaltung für Kultur und Europa, she is working on the publication “Politics of (In)Accessibilities” and on the book “Institution of Affinity”. She lives in Berlin.
Antigone Akgün (Konzept und Redaktion)
Antigone Akgün, geboren 1993 in Frankfurt am Main, ist freiberufliche Performerin, Autorin und Dramaturgin. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Klassische Archäologie, Griechische Philologie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt und absolvierte einen Masterstudiengang für Dramaturgie an der Hessischen Theaterakademie. Zuvor absolvierte sie eine Schauspielausbildung in Griechenland.
Antigone Akgün, born in Frankfurt/Main in 1993, is a freelance performer, author and dramaturg. She studied theatre, film and media studies, classical archaeology, Greek philology and philosophy at Goethe University Frankfurt and obtained a Master’s degree in dramaturgy from the Hessian Theatre Academy. Previously, she trained as an actor in Greece.
Anna Reimnitz (Assistenz)
Anna Reimnitz, geboren 1999, schloss ihr Studium in Kulturwissenschaften am Bodensee ab, bevor sie kurz darauf begann am Theatertreffen Blog mitzuarbeiten. In ihrer Arbeit sucht sie nach produktiven sowie unerwarteten Schnittstellen zwischen gesellschaftstheoretischer Reflexion und Formen des kulturellen Ausdrucks, im Medium der Schrift aber auch im Rahmen des Ausstellens.
Anna Reimnitz, born in 1999, completed her BA in cultural studies at Lake Constance before she began working as an assistant for the Theatertreffen Blog shortly afterwards. In her work, she searches for productive as well as unexpected interfaces between social theoretical reflection and forms of cultural expression, in the medium of writing but also in the context of exhibiting.